Im Bereich der Sexarbeit wird die Arbeit des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) durch zwei Gesetze bestimmt: das Infektionsschutzgesetz (IfSG) und das Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG). Das IfSG gilt seit Januar 2001 und nimmt im Paragraf 19 die Gesundheitsämter in die Pflicht. Sie müssen "bezüglich sexuell übertragbarer Krankheiten (…) Beratung und Untersuchung" anbieten oder "in Zusammenarbeit mit anderen medizinischen Einrichtungen sicherstellen".
Das ProstSchG trat am 1. Juli 2017 in Kraft und sieht die Pflichten hingegen bei den Prostituierten. Sie müssen ihre Tätigkeit anmelden, was allerdings nach Paragraf 10 eine gesundheitliche Pflichtberatung voraussetzt. Nur wer ein solches Gespräch absolviert, kann die zwingend vorgeschriebenen Erlaubnis-Papiere, den so genannten "Hurenausweis" erhalten. Ohne diesen Ausweis ist Sexarbeit in Deutschland nicht legal.
Schon vor der Corona-Krise war die Praxis der Beratungs- und Ausweispflicht umstritten. Viele Gesundheitsämter setzten auf die bewährten, freiwilligen und anonymen Angebote des IfSG. "Wir haben jahrelang Vertrauen zu den Menschen in der Sexarbeit aufgebaut, haben unsere Angebote niedrigschwellig und aufsuchend gestaltet", berichtet Internistin Johanna Claass. Die Ärztin leitet in Hamburg die Beratungsstelle Casablanca, ein Zentrum für HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen (STI). Das Zentrum dient auch vielen Menschen aus der Sexarbeit. "Wir können Untersuchungen anbieten, bei Bedarf auch Behandlungen ermöglichen und mit unseren Netzwerken weiterhelfen", schildert Claass die Arbeit bei Casablanca.
Doch mit der Corona-Krise kamen im Sommer 2020 enorme Herausforderungen auf die Gesundheitsämter zu – und auf die Menschen in der Sexarbeit, die auf die Angebote des ÖGD angewiesen waren. Die medizinischen Teams im ÖGD wurden für Pandemie-Maßnahmen gebraucht, Sexarbeit war über die so genannten Lockdowns schlicht verboten.
Wie unterschiedlich der ÖGD auf diese Krise reagierte, war Thema beim 5. Fachtag "Forschung zu Sexarbeit". Der versammelte Ende Juni im Rahmen des 66. Kongresses der Deutschen STI-Gesellschaft (DSTIG) Fachkräfte und Interessierte in Berlin. Beim so genannten DSTIG special moderierte Claass eine Diskussion mit Expertinnen aus Berlin, Frankfurt und Nordrhein-Westfalen.
Klares Ergebnis von Podiums- und Publikumsdiskussion: Was der Hamburger Ärztin und ihrem Team gelang, war andernorts nicht immer möglich. Nicht alle Gesundheitsämter konnten die Angebote nach dem Infektionsschutzgesetz ebenso aufrechterhalten wie die Beratungsprozeduren nach dem ProstSchG. "Es gab keine verlässlichen Strukturen für die Versorgung, keine für die Anmeldung", fasste Claass‘ Co-Moderator André Nolte vom Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD) den Austausch zusammen.
"Anfangs dachten einige noch, wenn Sexarbeit verboten ist, brauchen wir auch keine Angebote in den Gesundheitsämtern", schildert Nolte die Anfangszeit der Krise. Doch diese Vermutung sollte sich schnell als Trugschluss herausstellen. "Verbote zwingen Teile der Sexarbeit in den Untergrund, wo die Menschen für ärztliche Beratung und Begleitung kaum noch erreichbar sind. Bezahlte Sexualität findet dann unter problematischen Bedingungen, nicht nur für die Gesundheit statt." Das gelte, so Nolte, einerseits für die Diagnostik und Behandlung von sexuell übertragbaren Infektionen. Andererseits aber auch für die mentale Gesundheit. "Der Öffentliche Gesundheitsdienst spielt eine zentrale Rolle für die Stärkung von Menschen in der Sexarbeit. Wegen der gesetzlichen Bestimmungen sind die Ärztinnen und Ärzte im ÖGD oft die ersten, die von medizinischen Fragen und Problemen erfahren. Sind die dann offen für Themen aus der Sexarbeit und diskriminieren Sexarbeitende nicht, schafft das Vertrauen – auch über die Krise hinaus." Über ihre Erfahrungen mit den Corona-Beschränkungen und ihren Kampf gegen Stigmatisierung und Diskriminierung berichtete bei esanum bereits Sexarbeitein Phelister Abdalla in unserem Dossier Medizin und Gesellschaft.
In der Corona-Krise seien zwar manche ausländischen Sexarbeitenden in ihre Heimatländer zurückgereist. Doch gelte das nicht für alle. "Die Angebote des ÖGD stehen grundsätzlich allen Menschen in der Sexarbeit offen. Unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus oder ihren Sprachkenntnissen", hieß es in der Podiumsdiskussion. In einigen der größeren Ämter deckt das medizinische Personal viele Sprachen ab, in anderen helfen Sprachmittler:innen.
Belastbare Daten zu den Angeboten des ÖGD für Sexarbeitende in der Corona-Krise sollte eine kleine Studie bringen. Diese hatte Claass mit Hilfe der von ihr geleiteten Arbeitsgruppe zu Sexarbeit in der DSTIG gestartet. Doch nur wenige Ämter reagierten auf die kurze Anfrage. Laut Claass ein Zeichen, dass die Personaldecke im ÖGD vielerorts zu dünn sei. Diese Ansicht teilten auch etliche der anwesenden Fachleute. Bereits vor der Corona-Krise hatte der Marburger Bund mehr Geld für den ÖGD gefordert. "Die Corona-Krise hat an vielen Stellen gezeigt, dass der ÖGD kaputtgespart wurde. Wir können nur hoffen, dass die Angebote künftig auch in Krisenzeiten besser beibehalten werden", hieß es aus dem Publikum.