Bei Risdiplam gibt es einen Anhaltspunkt für einen Zusatznutzen für SMA Typ 1, bei Onasemnogen-Abeparvovec ist ein Zusatznutzen für keinen Typ belegt. Unterschiedliche Ausschlusskriterien der Studien erschweren Vergleiche.
Nach Nusinersen (Handelsname Spinraza) sind in Europa mit Risdiplam (Handelsname Evrysdi) und Onasemnogen-Abeparvovec (Handelsname Zolgensma) mittlerweile zwei weitere Wirkstoffe zur Behandlung von Patientinnen und Patienten mit einer 5q-assoziierten spinalen Muskelatrophie (SMA) zugelassen. In zwei frühen Nutzenbewertungen hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) nun untersucht, ob diese beiden Wirkstoffe bestimmten Gruppen von Patientinnen und Patienten einen Zusatznutzen bieten, insbesondere gegenüber Nusinersen.
Demnach gibt es bei Risdiplam einen Anhaltspunkt für einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen bei der infantilen Form (SMA Typ 1), die bereits in den ersten Lebenswochen beginnt und unbehandelt besonders schwer verläuft. Für ältere Betroffene (Typen 2 und 3) und für präsymptomatische Säuglinge, deren Gendefekte im Neugeborenen-Screening aufgedeckt wurden, ist ein Zusatznutzen dagegen nicht belegt. Bei Onasemnogen-Abeparvovec ist ein Zusatznutzen für keine dieser vier Gruppen belegt.
Bei der SMA sterben nach und nach bestimmte Nervenzellen im Rückenmark ab, die für die Bewegung der Muskulatur zuständig sind. Erhalten die Muskeln kein Bewegungssignal mehr, bleiben sie ungenutzt und werden schwach. Dies beeinträchtigt die motorische Entwicklung eines Kindes. Ursache der 5q-assoziierten spinalen Muskelatrophie ist das Fehlen eines Signalproteins aufgrund eines Defekts im Gen SMN1 auf dem längeren Arm – dem q-Arm – des 5. Chromosoms.
Nicht alle Menschen mit diesem Gendefekt erkranken gleich früh und gleich schwer. Denn ein weiteres, sehr ähnliches Gen, SMN2, produziert als Spleiß-Variante geringe Mengen des erforderlichen Signalproteins. Menschen haben zwischen einer und sechs Kopien dieses Gens, und je mehr Kopien im individuellen Genom vorliegen, desto besser kann SMN2 den Ausfall von SMN1 kompensieren, sodass die Betroffenen später und milder erkranken.
Bei der infantilen Form (Typ 1) liegen nur ein oder zwei SMN2-Genkopien vor. Die Kinder zeigen unbehandelt bereits wenige Wochen nach der Geburt Symptome, entwickeln kaum motorische Fähigkeiten und sterben mit ein bis zwei Jahren an den Folgen einer Atemschwäche. Diese Form ist zugleich die häufigste. Bei einem späteren Einsetzen der Symptome und einem entsprechend langsameren Verlust der bereits ausgebildeten motorischen Fähigkeiten spricht man von Typ 2, Typ 3 und Typ 4; die Betroffenen haben oft mehr Kopien des SMN2-Gens und eine entsprechend höhere Lebenserwartung.
Dank des in Deutschland mittlerweile etablierten Neugeborenen-Screenings auf Defekte im SMN1-Gen kann man bei den so identifizierten Kindern bereits vor dem Auftreten der ersten Symptome mit der Therapie beginnen.
Risdiplam setzt, ähnlich wie Nusinersen, an der mRNA von SMN2 an, um die Bildung von funktionsfähigem SMN-Protein zu erhöhen. Dieser sogenannte Spleißmodifikator liegt bei Risdiplam im Gegensatz zu Nusinersen allerdings als lösliches Pulver vor und wird einmal täglich oral eingenommen. Damit vermeidet man die Verletzungs- und Infektionsrisiken, die mit den Nusinersen-Injektionen in den Wirbelkanal einhergehen.
Der dritte neue Wirkstoff, Onasemnogen-Abeparvovec, verfolgt einen anderen Ansatz: Ein modifiziertes Virus schleust intakte Versionen des SMN1-Gens in die Zellkerne ein; es handelt sich also um eine Gentherapie. Der Wirkstoff wird einmalig in die Blutbahn injiziert.
Im Juli hat das IQWiG die Evidenz zu Risdiplam untersucht. Für Kinder mit SMA Typ 1 ergab sich ein Anhaltspunkt für einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen von Risdiplam gegenüber Nusinersen – vor allem, weil die Risiken wiederholter Injektionen in den Wirbelkanal entfallen und Risdiplam nach den vorliegenden Daten mindestens genauso wirksam ist wie Nusinersen. Für alle anderen Patientengruppen, nämlich Betroffene mit SMA Typ 2 und 3 sowie symptomfreie Neugeborene mit höchstens 3 bzw. mit 4 SMN2-Kopien, ist ein Zusatznutzen dagegen nicht belegt.
Jetzt hat das IQWiG untersucht, ob der dritte Wirkstoff Onasemnogen-Abeparvovec vier Gruppen von Patientinnen und Patienten mit bis zu drei Kopien des SMN2-Gens einen Zusatznutzen gegenüber der jeweiligen zweckmäßigen Vergleichstherapie bietet. Bei SMA Typ 1 oder 2 sowie präsymptomatischen Neugeborenen war dies Nusinersen, bei SMA Typ 3 dagegen eine andere Therapie nach ärztlicher Maßgabe oder aber Best supportive Care. Ein Zusatznutzen zeigt sich für keine dieser Patientengruppen: Für drei der vier Fragestellungen liegen keine geeigneten Daten vor. Für die Gruppe der Kinder mit SMA Typ 1 hat der Hersteller Vergleiche zwischen einzelnen Armen aus Studien zu Onasemnogen-Abeparvovec bzw. zu Nusinersen angestellt. Solche Vergleiche sind nur dann interpretierbar, wenn sich die Studienpopulationen hinreichend ähneln. Das ist hier nicht der Fall.
Die mit Onasemnogen-Abeparvovec behandelten Kinder waren zum Zeitpunkt der Gentherapie deutlich jünger als die Kinder in der Nusinersen-Studie bei ihrer ersten Dosis. Je früher im Krankheitsverlauf eine Therapie begonnen wird, desto günstiger kann das Behandlungsergebnis ausfallen. Auch die Ein- und Ausschlusskriterien bezüglich der Beatmung und der Atmungssymptomatik unterscheiden sich zwischen den Studien: Die Kinder, die Nusinersen erhielten, hatten eine ungünstigere Prognose als die mit Onasemnogen-Abeparvovec behandelten Kinder. Daher lautet das Fazit auch bei SMA Typ 1: Ein Zusatznutzen von Onasemnogen-Abeparvovec gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie ist nicht belegt.
"So erfreulich es ist, dass in kurzer Zeit drei Wirkstoffe für diese schwere Krankheit auf den Markt gekommen sind, so unbefriedigend ist bislang die Datenlage, auch bei SMA Typ 1", so Thomas Kaiser, Leiter des Ressorts Arzneimittelbewertung im IQWiG. "Die Studienpopulationen sind unterschiedlich zugeschnitten. Mal wurden Kinder eingeschlossen, bei denen das Atmungssystem bereits schwer betroffen war, und mal nicht. Und für beide neuen Wirkstoffe wurden keine vergleichenden Studien durchgeführt – im Gegensatz zu Nusinersen. Die Seltenheit der Erkrankung kann also kein Grund dafür sein. Den Ärztinnen und Ärzten sowie den Eltern wird dadurch die Auswahl der geeigneten Therapie für diese sehr jungen Patientinnen und Patienten nicht gerade leichtgemacht."