Sprache, Einfühlungsvermögen, Aufmerksamkeit – so unterschiedlich diese Fähigkeiten auch sein mögen, eine Hirnregion ist eingebunden in all diese Prozesse: Der Lobus parietalis inferior (IPL). Dennoch war bislang unklar, welche Rolle er bei diesen zutiefst menschlichen Fähigkeiten genau spielt. WissenschaftlerInnen am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften haben nun gezeigt, der IPL kommt dann zum Einsatz, wenn wir unsere Umgebung deuten müssen.
Verschiedenen Areale im Großhirn übernehmen eine ganz konkrete Funktion. Sie verarbeiten unsere Bewegung oder das, was wir sehen oder hören, also direkte physikalische Einflüsse. Manche Hirnbereiche kommen jedoch zum Einsatz, wenn es um höhere geistige Leistungen geht. Sie verarbeiten eintreffende Informationen, die bereits vorverarbeitet wurden und sich so auf einem abstrakten Level befinden.
Der Lobus parietalis inferior (IPL) im Scheitellappen ist eine dieser Regionen. Bisher war nicht geklärt, wie er solche sehr unterschiedlichen Funktionen wie Aufmerksamkeit, Sprache und soziale Kognition, also die Fähigkeit sich in andere Menschen hineinzuversetzen, bearbeitet. WissenschaftlerInnen am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig und der McGill Universität in Montreal haben herausgefunden, dass die verschiedenen Teile des IPL auf verschiedene unterschiedliche Fähigkeiten spezialisiert sind. Zugleich arbeiten diese Bereiche aufgabenspezifisch mit vielen anderen Hirnregionen zusammen. Geht es um Sprachverständnis, wird der vordere Teil des IPL in der linken Hirnhälfte aktiv. Bei Aufmerksamkeit ist es der vordere Teil auf der rechten Hirnseite. Bei sozialen Kompetenzen treten die hinteren IPL-Teile in beiden Hirnhälften gemeinsam in Aktion. "Soziale Kognition erfordert die meiste Interpretation", erklärt Erstautor Ole Numssen. "Daher arbeiten hier vermutlich die IPL auf beiden Hirnseiten zusammen."
Diese Unterbereiche arbeiten wiederum mit unterschiedlichen Regionen des restlichen Gehirns zusammen. Bei Aufmerksamkeit und Sprache verknüpft sie sich jeweils mit Arealen auf einer Hirnseite. Bei den sozialen Fähigkeiten sind es Bereiche auf beiden Seiten. Auch hier scheint zu gelten: Je komplexer die Aufgabe, desto intensiver die Zusammenarbeit mit anderen Bereichen.
"Unsere Ergebnisse geben Einblicke in die grundlegende Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Sie zeigen, wie es dynamisch auf veränderte Anforderungen reagiert. Dazu verknüpft es spezialisierte einzelne Areale wie den IPL mit anderen allgemeineren Regionen", sagt Numssen. "Je anspruchsvoller die Aufgaben, desto intensiver vernetzen sich die einzelnen Areale miteinander." Hochkomplexe Funktionen wie Sprache oder soziale Fähigkeiten würden somit möglich. "Der IPL ist letztendlich das Areal, mit dem wir die Welt interpretieren."
Schon bei Menschenaffen, so Numssen, sehe man in Hirnregionen, die dem IPL entsprechen, dass sie nicht nur rein physikalische Reize verarbeiten, sondern auch darüber hinausgehende. Im Laufe der Evolution scheinen diese Regionen demnach schon immer dafür zuständig gewesen zu sein, komplexe Inhalte zu verarbeiten. Es gibt allerdings Teile im IPL, so der Neurowissenschaftler, die sich nicht beim Menschenaffen wiederfinden. Die könnten ein Hinweis darauf sein, dass sich das Hirnareal innerhalb der Evolution weiterentwickelt hat und heute Schlüsselfunktionen der menschlichen Kognition ermöglicht.
Untersucht wurden die Zusammenhänge mithilfe von drei Aufgaben, die die StudienteilnehmerInnen nacheinander lösen mussten, während sie im MRT lagen. Zunächst sollten sie ihr Sprachverständnis unter Beweis stellen. Dazu sahen sie Wörter mit Bedeutung wie "Taube" und "Haus", aber auch Pseudowörter wie "Pulre", und mussten entscheiden: echtes Wort oder nicht. In einer zweiten Aufgabe stellten sie ihre visuell-räumliche Aufmerksamkeit unter Beweis. Darin sollten sie auf Reize auf der einen Seite des Bildschirms reagieren, obwohl sie erwarteten, auf der anderen werde etwas geschehen. In einer dritten Aufgabe ging es schließlich darum, mithilfe des Sally-Anne-Tests die sozialkognitiven Fähigkeit zu prüfen. Dabei handelt es sich um einen Comic in vier Bildern, auf denen zwei Menschen miteinander interagieren. Am Ende steht eine Frage, die nur richtig beantwortet werden kann, wenn sich die StudienteilnehmerInnen in die Erfahrungen der jeweiligen Personen hineinversetzen können.
Quelle: Numssen O., Bzdok D., Hartwigsen G. (2021) Functional specialization within the inferior parietal lobes across cognitive domains. elife