Wird die "Volkskrankheit Rheuma" unterschätzt? Davon geht die Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh) aus und präsentiert, sicher nicht zufällig im Wahljahr, ihr aktualisiertes Memorandum zur Versorgungslage.
Mehr Geld, mehr Lehrstühle, aber auch mehr interdisziplinäre Kooperation, vor allem mit den Hausärzten – diese Forderungen wurden kürzlich bei einer Pressekonferenz der DGRh in Berlin artikuliert. Das soeben aktualisierte Memorandum1 (PDF-Link) der Fachgesellschaft diente als Anlass, um die drängendsten Probleme in der rheumatologischen Versorgung zu beleuchten.
Das Memorandum, das der DGRh neben der Öffentlichkeitsarbeit vor allem dem politischen Lobbying dient, erschien erstmals 1993. Damals wurde auch das erste ambulante Rheuma-Zentrum gegründet und mit der Dokumentation einer 17.000 Rheuma-Patienten umfassenden Kohorte begonnen. Im Jahr 2008 wurde das Memorandum überarbeitet. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich an der damals definierten Bedarfssituation wenig geändert, so die Epidemiologin Prof. Angela Zink vom Deutschen Rheuma-Forschungszentrum.
Mehr als 1,5 Millionen erwachsene Patienten mit rheumatisch-entzündlichen Erkrankungen machen den Krankheitskomplex "Rheuma" in Deutschland zur Volkskrankheit. Wünschenswert und notwendig ist nach Ansicht der DGRh
Und wie sieht es in der Praxiswirklichkeit aus? Die durchschnittliche Dauer, bis ein Patient nach dem Auftreten der ersten Symptome in die Praxis des Rheumatologen gelangt, konnte seit 1993 zwar halbiert werden – beträgt aber immer noch ein ganzes Jahr. Dabei können heute moderne Medikamente vielen Rheuma-Patienten zu hoher Lebensqualität und gebremster Krankheitsprogression verhelfen. Sofern sie denn frühzeitig eine korrekte Diagnose und adäquate Behandlung erhalten.
Neueren GKV-Daten zufolge kommt die Hälfte der Rheuma-Patienten innerhalb von 6 Monaten beim richtigen Facharzt an, bei der anderen Hälfte kann das bis zu 5 Jahre dauern, berichtete Zink. Besonders bedenklich ist der Umstand, dass etwa ein Drittel der Patienten den Rheumatologen überhaupt nicht erreicht. Dabei ist dessen Mitwirkung in der Patientenbetreuung angesichts des komplexen und vielfältigen Krankheitsbildes aus fachlicher Sicht unerlässlich.
Ein Haupthindernis ist aus Sicht der Fachgesellschaft die zu geringe Zahl an praktizierenden Fachärzten. Knapp 780 internistische Rheumatologen sind heute in Deutschland ambulant tätig. Bei einem postulierten Mindestbedarf von 2 auf 100.000 Einwohner müssten es laut DGRh fast doppelt so viele sein, nämlich 1.350. Unter Berücksichtigung der zunehmenden Teilzeitarbeit im ärztlichen Bereich fallen die errechneten Zahlen sogar noch höher aus: 3 pro 100.000 Einwohner und damit 2.000 Rheumatologen insgesamt.
Auch im Krankenhaus herrscht demnach ein Spezialisten-Mangel. Im akutstationären Bereich verortet die DGRh ein Defizit von bis zu 400 Rheumatologen, in der rehabilitativen Versorgung von etwa 80. Die stationäre Bettenzahl müsste um 700 auf 4.000 aufgestockt werden. Eine Ausweitung des gesamten Bettenangebots ist nach Zinks Ansicht dafür aber nicht notwendig. Der rheumatologische Mehrbedarf könnte aus dem Fundus der bestehenden Fehlbelegung gedeckt werden. "Wir haben eine sehr gute klinische Versorgung, aber ein Drittel der Patienten liegt in falschen Betten", so Zink.
Für die geringe Anzahl an Rheumatologen machte der Präsident der DGRh, Prof. Hanns-Martin Lorenz (Heidelberg), die medizinische Ausbildung verantwortlich. Die Zahlen hierzu stammen aus den RISA-Studien zur rheumatologischen Integration in die studentische Ausbildung: 14 Vorlesungsstunden in Rheumatologie während des gesamten Medizinstudiums, 6 rheumatologisch-praktische Übungen und 7 Stunden Übungen am Krankenbett.
"Diese Schmalspur-Ausbildung bietet kaum Chancen, Interesse für das Fach zu entwickeln", kritisierte Lorenz. "Zudem haben wir viel zu wenige universitäre Lehrstühle, um die rheumatologische Forschung und Lehre voranzutreiben." Mangelnde Stellenoptionen tun ein Übriges. Lorenz fordert deshalb Lehrstühle und eigenständige universitäre Abteilungen an allen medizinischen Fakultäten.
Den praktizierenden Rheumatologen wiederum erschweren Budget- und Leistungsgrenzen sowie die fehlende Bedarfszulassung das Leben. "Die Rheumatologen müssen raus aus dem Internisten-Topf", forderte deshalb Zink. "Das Budget muss entdeckelt werden, die KVen müssen sich bewegen."
Beispiel Berlin: Hier gibt es 32 niedergelassene Rheumatologen, von denen 18 fachärztliche und 14 hausärztliche Internisten sind. Das entspricht einer Quote von etwa 1:100.000 Einwohnern und damit in etwa dem bundesdeutschen Durchschnitt, der im ländlichen Bereich teilweise deutlich unterboten wird. Das 2-Wochen-Ziel für einen Termin zur Erstvorstellung eines Neuerkrankten ist für Dr. Kirsten Karberg, Vorsitzende des Rheumazentrums Berlin, gegenwärtig nicht realisierbar.
Die Anstrengungen der internistischen Rheumatologen, durch Optimierung der Praxisabläufe und gesteigerte Arbeitsintensität das hohe Patientenaufkommen besser zu bewältigen, verdeutlichte Karberg anhand von Abrechnungsdaten der Berliner KV: Die Fallzahl stieg von 860 im 2. Quartal 2011 auf 1.022 im 2. Quartal 2016 – "mehr geht nicht".
Die ambulante Finanzierungssituation ist allerdings schlecht, erklärte die niedergelassene Rheumatologin. Das nach dem Leistungskatalog vorgesehene Honorar wird durch die Budgetierung mehr oder weniger halbiert. "Bei einem Fallwert von 32 bis 34 Euro pro Patient und Quartal sind die erwartbaren Umsätze für Rheumatologen in Berlin zu niedrig, um einen Praxiskauf finanzieren zu können." Der in der Vergangenheit geübte Umweg über die hausärztliche Zulassung ist unter Versorgungsgesichtspunkten kein wünschenswerter Lösungsansatz.
Kommt hier die Einführung der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV) zu Hilfe? Theoretisch schon, meinte Karberg. Die direkte Abrechnung mit den Krankenkassen ist zunächst unbudgetiert und ermöglicht die Einstellung eines Weiterbildungsassistenten. Praktisch aber handelt es sich um ein "Bürokratie-Monster", mit dem Kliniken leichter umgehen könnten als Niedergelassene. "Die Umsetzung in den nächsten Monaten muss abgewartet werden."
Für die Klinikambulanzen bedeutet das Geld aus der ASV, dass sie ihre Leistungen nicht mehr wie bisher komplett selbst aus den stationären Erlösen finanzieren müssen. "Gelöst sind die Finanzierungsprobleme damit aber noch nicht", betonte DGRh-Präsident Lorenz.
Wichtig für die hausärztlichen Kollegen ist sein Hinweis auf spezielle Sprechstunden-Angebote zur Patientenselektion an rheumatologisch zertifizierten Kliniken. "Der Hausarzt kann die Gatekeeper-Funktion nicht erfüllen“, so der Sektionsleiter am Universitätsklinikum Heidelberg. "Zeitfenster zur Sichtung sind vorhanden", sie sollten ebenso wie die Fortbildungsangebote genutzt werden.
Zur Verbesserung der rheumatologischen Versorgung ist also nicht nur die Politik gefragt. Die Kooperation zwischen Haus- und Facharzt gilt es ebenso zu intensivieren wie die strukturierte interdisziplinäre Zusammenarbeit der Rheumatologen u.a. mit Dermatologen, Gastroenterologen, Nephrologen, Kardiologen und Augenärzten, die Lorenz in seinem Vortrag noch als "Zukunftsvision" einstufte.
Quelle: "Rheumatologische Versorgung in Deutschland – das aktuelle Memorandum der DGRh". Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh). Berlin, 19.04.2017.
Referenz: Zink A et al. Memorandum der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie zur Versorgungsqualität in der Rheumatologie – Update 2016. Z Rheumatol 2017;76:195–207.