"Bereits vorhandene Problemlagen von Kindern und Jugendlichen wurden im Verlauf der Corona-Pandemie verstärkt und medizinische Versorgungslücken deutlicher sichtbar. In Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status werden insbesondere die psychosozialen Folgen für Kinder und Jugendliche auch noch in den nächsten Jahren Spuren hinterlassen", heißt es in der Kernresolution des Ärztetages.
Gemeinsam mit Experten aus der Pädiatrie und der pädiatrischen Psychiatrie und Psychologie debattierte der Ärztetag das fachliche Schwerpunktthema ausführlich und beschloss ein umfassendes Forderungspaket:
Zur Begründung heißt es: Monatelang fehlender Präsenzunterricht, das Verbot von Sport und Freizeitkontakten und daraus resultierender übermäßiger Medienkonsum, die Verschlechterung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens, aber auch die Auseinandersetzung mit Tod und Krankheit von Angehörigen sowie existenzielle Ängste der Eltern hätten ein "stark negativen Einfluss auf die Entwicklung Heranwachsender" gehabt. Dies alles habe die bestehende soziale Ungleichheit weiter verstärkt.
Vier Experten hatte der Ärztetag als wissenschaftliche Referenten um eine vorläufige Bewertung der Pandemie-Auswirkungen für Kinder gebeten. Das harte Urteil von Professor Reinhard Berner von Uniklinikum Carl Gustav Carus in Dresden: "Die meisten Corona-Entscheidungen stehen im Widerspruch zur UN-Kinderrechtskonvention."
Systematisch erhobene Daten zeigten, dass die primäre Krankheitslast durch Covid-19 für Kinder sehr gering gewesen ist. Insbesondere die Altersgruppe der 5- bis 11-Jährigen hatte ein sehr niedriges Erkrankungsrisiko, die Rate der ICU-Aufnahmen lag bei 0,2 je 10.000; kein Kind verstarb. Die PIMS-Inzidenz betrug 4 pro 4.000 SARS-CoV-2-Infektionen.
Anders sieht dies, so Berner, bei der sekundären Krankheitslast aus: Schul- und Kitaschließungen, von denen Deutschland im internationalen Vergleich überdurchschnittlich Gebrauch gemacht hat, verursachten zwei Drittel aller Verschlechterungen psychischer Probleme bei Kindern und Jugendlichen, ohne dass sich dieser Effekt nach Lockerung der Kontaktbeschränkungen aufgelöst habe. Beobachtet worden sei ein sprunghafter Anstieg von Übergewicht und Typ-1-Diabetes. Da als Folge des Lockdowns kaum RSV-Infektionen stattgefunden haben, muss als Folge mit einer stark steigenden RSV-Infektionswelle gerechnet werden – mit der Gefahr einer Überforderung der Kinderkliniken und ihrer Intensivkapazitäten (2000 Betten). Unterkapazitäten in der pädiatrischen Intensivmedizin könnten nicht durch Kapazitäten der Erwachsenen-Intensivmedizin kompensiert werden.
Der Mainzer Pädiater Professor Fred Zepp, Mitglied der Ständigen Impfkommission, begründete die scheinbare Zögerlichkeit der Kommission bei der Abgabe von Empfehlungen zu Kinder-Impfungen. Die Zulassungsstudien für die beiden mRNA-Impfstoffe, die derzeit auch für Kinder zugelassen sind, beruhten nur auf Studien mit erwachsenen Probanden und hätten vom Volumen her keine Bewertung sehr seltener Risiken ermöglicht. In der Folgezeit seien klinische Studien mit Kindern mit nur relativ wenig Probanden durchgeführt worden. Real-World-Daten aus den USA mit sehr viel mehr Impfungen (18 Millionen, auch aufgrund insgesamt sehr hoher Infektionszahlen) zeigten ein sehr gering erhöhtes Risiko für Myokarditis.
Insgesamt hat die STIKO bislang fünf Empfehlungen zu Kinderimpfungen abgegeben, nach sorgfältiger Prüfung der Datenlage und der Evidenz in Bezug auf Kinder, exzellent unterstützt vom RKI – und damit nicht politischem Druck nachgegeben. Das Fazit: mRNA-Impfstoffe sind sicher, haben einen Effekt auf den Erkrankungsverlauf und sehr wenig Nebenwirkungen. Die Wirksamkeit liege bei 80 Prozent hinsichtlich der Delta-Variante und bei 60 Prozent hinsichtlich der Omikron-Variante. Die Wirksamkeit lassen je nach Altersgruppe unterschiedlich stark ab.
Eine Analyse der Auswirkungen auf die psychische Situation von Kindern und Jugendlichen stellt Professor Martin Holtmann (Hamm) beim Deutschen Ärztetag vor. Seine Kernaussage: Resilienztheoretische Konzepte sind meist Romantik – sie versagen vor allem in vulnerablen Gruppen. Bei Kindern, die aufgrund familiärer oder sozioökonomischer Situation schon vorbelastet sind, wirkten Lockdowns als Auslöser und Verstärker. Widerstandsfähigkeit. Generell sei Resilienz nur zeitgleich begrenzt strapazierfähig.
Laut Befragungen hat sich der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit geminderter Lebensqualität in der ersten Pandemiewelle auf rund 40 Prozent verdoppelt, in der Welle im Herbst/Winter 2020/21 sogar auf 50 Prozent erhöht. Das Risiko für psychische Störungen stieg von 18 auf über 30 Prozent (COPSY-Studie). Die pathologische Nutzung von sozialen Medien stieg in der ersten Pandemiewelle um über 60 Prozent.
Nur vorübergehend sei die Inanspruchnahme der Kinder- und Jugendpsychiatrie 2020 gesunken, seit dem Sommer 2021 wird ein signifikanter Nachholeffekt sichtbar (plus 50 Prozent), darunter auch eine steigende Zahl von Notfällen. Hauptkrankheitsbilder: Depression, Magersucht, Ängste und Zwänge. Besonders betroffen: Kinder aus unten Bildungs-und Sozialschichten oder Migrationshintergrund – und damit eine Klientel, die schon vor Corona höchst vulnerabel war. Die Versorgungskapazität und -struktur sei darauf nicht eingestellt, so Holtmanns: Vereinzelte Modelle der kooperativen und integrierten Versorgung funktionierten gut, hätten bislang nicht den Weg in die Breitenversorgung geschafft. Es existiere fast keine ambulante Rehabilitation.
Die Lockdowns an Schulen und Kitas haben bereits vor der Pandemie bestehende Defizite in der Infrastruktur und Digitalisierung verschärft und werden, so die Sprechering von COVerCHILD im Netzwerk der Uni Köln, Dr. Annic Weyersberg, wahrscheinlich lebenslang wirksame Folgen für Kinder und Jugendliche haben. Die Lesefähigkeit von Grundschulkindern sei im Schnitt um ein Viertel Jahr zurückgefallen, die Zahl leistungsschwacher Schüler sei um zehn Prozent gestiegen, Kinder mit Migrationshintergrund hätten inzwischen einen Leistungsnachteil von zwei Schuljahren. Die sozioökonomisch bedingten Leistungsdifferenzen könnten im Schulsystem nicht abgebaut werden. Sie verweist auf Studien der Leopoldina, wonach als Langzeitfolge die Kinder und Jugendlichen von heute mit einer lebenslangen Einkommenseinbuße von durchschnittlich drei bis vier Prozent rechnen müssen – für sozial benachteiligte Kinder sind die Folgen viel gravierender.
Ihr Fazit: "Die Pandemie war ein Verstärker bestehender Ungleichheiten in Gesundheit, Bildung, Teilhabe und Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen. Schulschließungen müssen künftig die Ultima Ratio sein. Fremdnützig auferlegte Einschränkungen von Grundrechten für Kinder und Jugendliche müssen ethisch und wissenschaftlich fundiert begründet sein – und Kinder müssen ein Recht auf Beteiligung und Anhörung bekommen."
Der Ärztetag hat sich außerdem für straf- und berufsrechtliche Sanktionen gegen jene Ärzte ausgesprochen, die in der Pandemie durch Fehlverhalten ihre Patienten und andere Menschen gefährdet haben. Als Fehlverhalten gilt danach die Ausstellung falscher Bescheinigungen zur Befreiung von der Maskenpflicht, die Weigerug, selbst Masken zu tragen oder vorgeschriebene andere Maßnahmen zum Infektionssschutz zu verweigern. Ferner verurteilt der Ärztetag die Verbreitung bewusster Falschmeldungen von Ärzten in sozialen Medien. Sie missbrauchten ihre Autorität und das Vertrauen der Patienten, indem sie die Gefährlichkeit der Covid-Infektion leugneten oder verharmlosten.
Der Deutsche Ärztetag ist die jährliche Hauptversammlung der Bundesärztekammer, bei der 250 Delegierte aus den 17 deutschen Ärztekammern zusammenkommen und über länderübergreifende Regelungen zum Berufsrecht beraten. Zu solchen Regelungen gehören zum Beispiel die Muster-Weiterbildungsordnungen zu den einzelnen Fachgebieten. Beim Deutschen Ärztetag werden auch die Positionen der Ärzteschaft zu aktuellen gesundheits- und sozialpolitischen Diskussionen der Gesellschaft besprochen und für die Öffentlichkeit formuliert.