esanum: Wie kamen die ersten ukrainischen Kinder in die Charité?
Prof. Eggert: Direkt nach dem Kriegsbeginn kamen zwei Familien mit krebskranken Kindern bei uns in die Rettungsstelle. Da wurde sofort klar, dass mehr kommen werden. Kurz darauf riefen polnische Kollegen an, die mich aus der Fachgesellschaft kennen, und baten um Hilfe, weil ihre Kliniken bereits belegt waren. So fiel schnell die Entscheidung, strukturiert in die europäischen Länder zu verlegen. Ich habe angeboten, das in Deutschland zu koordinieren. Jetzt bin ich dafür verantwortlich, die Kinder in 60 deutsche Klinken zu verteilen.
esanum: Wie wird der plötzliche zusätzliche Aufwand bewältigt?
Prof. Eggert: Alle 60 Kliniken melden an das Büro der GPOH zweimal in der Woche ihre freie Bettenkapazität. Und da ich alle Kliniken und ihre besondere Expertise kenne – nicht jede Klink hält alles vor – sorge ich für eine sinnvolle Verteilung. Wir haben nun eine Dreifachbelastung: Den Mangel an Pflegepersonal, den wir in der Kindermedizin schon lange kennen, weiterhin die Pandemie und jetzt diese humanitäre Krise. Trotzdem sind die Teams in der Charité und in den anderen Klinken enthusiastisch dabei. Ich kann meine Kolleginnen und Kollegen nur loben: Jeder schaut, was er on top leisten kann.
esanum: Wie muss man sich die Organisation der Krankentransporte und Verteilung vorstellen?
Prof. Eggert: Das erste Wochenende war chaotisch. Wir konnten zunächst durch finanzielle Unterstützung von Stiftungen Busse organisieren, die die Kinder abholen. Zunächst wurden sechs Busse nach Polen geschickt. Mittlerweile übernehmen die Johanniter Berlin-Brandenburg die Transporte. Wenn es um eine größere Gruppe Patienten geht, bringen die Johanniter sie zunächst nach Cottbus in ein Kinderhaus, wo sie sich ausruhen können und dann auf Kleinbusse verteilt werden, die einzelne Kliniken anfahren. Die Routen Süd-Nord oder West-Ost legen wir vorher bereits fest, entsprechend der Kapazität der Kliniken. Und während der Bus fährt, teile ich die Kinder je nach Diagnose den einzelnen Klinken zu.
esanum: Wie konnten Sie so eine Logistik über Nacht aus dem Boden stampfen?
Prof. Eggert: Uns helfen amerikanische Kollegen von der St. Jude Kinderklinik in Memphis. Sie registrieren alle krebskranken Kinder, die aus der Ukraine nach Polen kommen und übersetzen die ukrainischen Arztbriefe ins Englische. Über 700 Kinder, die die Ukraine verlassen wollen, sind in einem Register erfasst. Auch die ukrainischen Kollegen leisten tolle Arbeit. Alle Kinder, die sie auf den Weg schicken, haben einen informativen, zusammenfassenden Arztbrief dabei.
esanum: Wie kommen die Kinder aus dem Kriegsgebiet heraus und zu uns?
Prof. Eggert: In Lwiw dient eine Klinik als Anlaufpunkt. Dort verzeichnen sie jetzt eine fünfmal so hohe Zahl von Kindern als sonst. Jene, die transportfähig sind, werden in einem Medical Train nach Polen gebracht. Dort ist in einem Hotel ein medizinisches Camp eingerichtet, wo die polnischen Kollegen entscheiden, wer stabil genug ist für den Weitertransport per Bus, Flugzeug oder Krankentransport. Inzwischen nehmen viele Länder auf: Italien, Spanien, Frankreich, Holland, Belgien, Schweiz, England, sogar Kanada und die USA.
esanum: Bekommen ukrainische Kliniken auch vor Ort Unterstützung?
Prof. Eggert: Ja, die Arbeitsbedingungen für die Kolleginnen und Kollegen dort werden immer schwieriger. Chemotherapien und andere Medikamente werden knapp. Teilweise sitzen die Kollegen mit den Kindern im Keller und arbeiten weiter. Derzeit ist ein Hilfstransport aus Freiburg unterwegs nach Lwiw – die beiden Partnerstädte haben sehr schnell den Transportweg organisiert. Das sind aber im Augenblick noch private Initiativen, finanziert aus Spendenmitteln vom Förderverein der Freiburger Kinderklinik. Wir gehen davon aus, dass in der Ukraine 2.000 Kinder in der akuten Krebstherapie sind und Hilfe brauchen.
esanum: Wie viele ukrainische Kinder mit anspruchsvollen Diagnosen werden in Deutschland behandelt?
Prof. Eggert: Wir nehmen nach Polen die meisten schweren, instabilen Fälle auf. Neun Kinder sind aktuell in der Charité. Zentral aufgenommen sind in Deutschland derzeit 140. Da einzelne Familien spontan dazu kommen, sind es etwa 180 Kinder.
esanum: In welchem Zustand kommen sie zu Ihnen auf die Station?
Prof. Eggert: Die ersten beiden waren sterbende Kinder, die bereits zu Hause keine Hoffnung mehr hatten. Eines haben wir mittlerweile verloren. Dann kamen viele Leukämien und Patienten nach Stammzelltransplantation, die kontinuierlich betreut werden müssen, aber mobil sind. Jetzt kommen Kinder mit Hirntumoren, Knochentumoren, die teilweise liegend, von Fachpersonal begleitet, transportiert werden. Das grundsätzliche Niveau der Behandlung in der Ukraine ist quasi auf dem aktuellen Stand der Medizin. Der Krieg erschwert dort die Versorgung natürlich erheblich.
esanum: Wie sieht es bei uns mit der Finanzierung aus?
Prof. Eggert: Im Moment gehen die Kliniken in Vorleistung. Es gibt die rechtliche Rahmenbedingung, dass die Versorgung mit dem Flüchtlingsstatus abgedeckt ist. Aber wie die Abrechnung läuft, wissen wir noch nicht.
esanum: Jetzt sind Sie Klinikchefin und Logistikerin. Wie schaffen Sie das?
Prof. Eggert: Es macht mir Spaß - trotz des traurigen und dramatischen Anlasses - Spaß. Ich habe schnell viel gelernt. Diese Arbeit hat etwas Unmittelbares, Herausforderndes und das ist sehr befriedigend.
esanum: Hoffen Sie auf ukrainisches Fachpersonal, das künftig helfen könnte?
Prof. Eggert: Wir haben tatsächlich die erste ukrainische Kinderärztin gefunden, die als Flüchtling nach Berlin gekommen ist und werden mit ihr ein Pilotprojekt starten. Es wird dauern, bis ihre Approbation anerkannt ist. Daher wird sie erstmal in der Patientenkommunikation eingesetzt – was sehr wichtig ist.