Das Konstrukt Europa wird immer häufiger infrage gestellt. Was aber hält unsere Staatengemeinschaft zusammen? Ein europäisches Forschungsteam unter Leitung der Charité – Universitätsmedizin Berlin sieht in der gemeinsamen Sorge um die Gesundheit der Menschen einen Schlüsselfaktor, um diese Frage zu beantworten. Die Forschenden möchten im Rahmen ihres Projekts "Leviathan" die Geschichte des Nachkriegs-Europas auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs beleuchten. Dafür erhalten sie vom Europäischen Forschungsrat (ERC) jetzt einen ERC Synergy Grant in Höhe von rund 10 Millionen Euro.
"Bisher wird das Europa der Nachkriegszeit meist im Hinblick auf ideologische, politische und wirtschaftliche Gegensätze betrachtet. Als Gebiet zwischen zwei Weltmächten steht dabei die Teilung im Vordergrund", sagt der Koordinator des Verbundprojekts Prof. Dr. Volker Hess, Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité. "In unserem Forschungsprojekt möchten wir dagegen das Gemeinsame herausarbeiten und sind der Ansicht, dass der medizinische Blickwinkel der Schlüssel dafür ist." Die Arbeitshypothese erklärt er so: "Ideale und Ziele mögen sich damals unterschieden haben. Doch im kapitalistischen wie sozialistischen Europa waren Gesundheit und Wohlergehen der Menschen ein zentrales Ziel."
Zusammen mit dem Historiker Prof. Dr. Ulf Schmidt von der University of Kent (Großbritannien), der Rechtswissenschaftlerin Prof. Dr. Judit Sándor von der Central European University (Ungarn) und der Anthropologin Prof. Dr. Anelia Kassabova von der Bulgarian Academy of Sciences (Bulgarien) möchte Prof. Hess untersuchen, wie sich die Medizin und das Gesundheitswesen sowohl in Ost- als auch in Westeuropa zwischen 1945 und 1990 entwickelt haben. "Unser Ziel ist es, jenseits von ideologischen und ökonomischen Gegensätzen die Tradition des Gemeinwohls und der sozialen Verantwortung als eine zentrale Errungenschaft der Nachkriegszeit herauszuarbeiten", sagt Prof. Hess. "So wollen wir zu einer gemeinschafts- und identitätsbildenden europäischen Geschichte beitragen, die sich der Angst vor Überfremdung und autoritären Tendenzen entgegenstellt."