Wie ändert sich das Leben der Klinik-Ärzte in Zeiten der Corona-Krise? Sind die Krankenhäuser wirklich kaputtgespart? Und wie hilft jetzt die Digitalisierung? Fragen an PD Dr. med. Dominik Pförringer, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie in München, Co-Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Digitalisierung der DGOU.
esanum: Inwieweit haben Sie als Facharzt für Orthopädie derzeit mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie zu tun?
Pförringer: Das Tagesgeschäft, also die Behandlung von Menschen mit muskuloskelettalen Erkrankungen, wurde auf ein notwendiges Mindestmaß runtergefahren. Orthopäden und Unfallchirurgen dürfen derzeit noch hochakute und infektiöse (lokale Infektionen, keine Viruspatienten!) Fälle und Menschen mit akuten Schmerzen behandeln, genauso wie Tumorpatienten - aber das übliche Geschäft steht still.
Die Ärzte in den operativen Fächern haben insgesamt eher weniger zu tun, um zusätzliche Kapazitäten für den potenziellen Run auf die Kliniken frei zu halten. Wenn man beispielsweise einen älteren Patienten ausgedehnt operiert, muss er danach oft auf der Intensivstation weiter betreut werden. Diese Betten werden aber vielleicht schon morgen für Corona-Patienten gebraucht. Das heißt, das normale Gesundheitswesen wird derzeit deutlich reduziert - mit allen wirtschaftlichen Konsequenzen.
esanum: Drehen Sie jetzt Däumchen?
Pförringer: Nein, das nicht. Ich helfe Patienten weiter, so gut es geht. Ich behandle weiter Patienten mit akuten Rücken- oder Arthroseschmerzen, je nach Dringlichkeit und Bedarf. Gerade in unruhigen Zeiten ist es wichtig für seine Patienten persönlich erreichbar und verfügbar zu sein. So auch an den Wochenenden.
esanum: Könnten Sie nicht an Brennpunkten einspringen?
Pförringer: Nur bedingt. Wenn ich in den Medien lese, man hole Ärzte aus der Rente zurück oder rekrutiere sie anderswo – das empfinde ich als abenteuerlich. Denn der Flaschenhals, das sind derzeit nicht die Mediziner, das sind die Beatmungsplätze. Wenn ich mehr Menschen neben ein Bett stelle, wird daraus kein zusätzliches Beatmungsgerät.
esanum: Hätten Sie sich vor Corona jemals eine so weitreichende medizinische Herausforderung vorstellen können?
Pförringer: Man könnte jetzt klug daherreden und sagen: Klar, das musste ja so kommen. Aber dass es in so einem Maß kommt, war nicht abzusehen. Wobei ich auch noch nicht einschätzen kann, ob wir nicht ein bisschen im vorauseilenden Gehorsam überreagieren. Zahlen der WHO besagen: Zum jetzigen Zeitpunkt sterben etwa 3.000 Menschen pro Tag an Tuberkulose, ca. 1.000 an Influenza, ca. 250 an Masern und im Winter 2017/2018 sind weltweit 1,5 Millionen Menschen der Influenza zum Opfer gefallen. Da muss man sich schon überlegen: ist das derzeitige Vorgehen gerechtfertigt? Das werden wir erst ex post wissen. Wir bereiten uns gerade vor. Und wir blicken gespannt auf die Situation in Italien. Wir wissen nicht, was dort die Einfallschneise war, es ist unklar wie die Fallzahlen kalkuliert werden. Waren das die chinesischen Gastarbeiter, die en masse in der Modeindustrie tätig sind? Liegt es an der industriellen Luftverschmutzung in Oberitalien und den daraus resultierenden chronischen pulmonalen Vorschädigungen? Oder liegt es daran, dass dort ganz andere sozio-ökonomische Verhältnisse herrschen - während hier bei uns viele alte Leute in Seniorenheimen leben, wohnen in Italien viele alte Leute unter einem Dach mit ihren Kindern und Enkelkindern. Das macht einen großen Unterschied.
Zudem ein Rechenbeispiel: wenn ich alle alten Männer post mortem auf Prostataleiden teste, komme ich auf enorme Zahlen. Sterben diese Menschen an diesem Leiden? Oftmals eher aus anderen Gründen. Das heißt, sie sterben beispielsweise MIT einem Prostatakarzinom, jedoch nicht AN diesem. Ähnlich verhält es sich möglicherweise mit den Zahlen der Infizierten.
Zudem bestehen große Unsicherheiten hinsichtlich der Testergebnisse. Sogenannte falsch positive und falsch negative Ergebnisse beeinflussen die Statistiken massiv. Ebenso ist dies für die Testquote zu sagen. Valide werden die Zahlen erst, wenn wir flächendeckend testen und die Todesursachen von Vor- und Nebenerkrankungen bereinigt betrachten. Erst dann kann man sinnvolle Vergleiche anstellen.
esanum: Ein Klinik-Kollaps ähnlich wie in Italien wird befürchtet – wie sehen Sie und Ihre ärztlichen Kollegen dieses Thema? Wie ist die Stimmung?
Pförringer: Die Stimmung ist positiv gespannt. Die Haltung ist: Wo können wir helfen? Lasst es uns anpacken! Wir sind also in Habachtstellung. Inwiefern wir wirklich gewappnet sind, das kann man noch nicht sagen. Das hängt davon ab, ob jetzt eine Welle der exponentiellen Steigerung kommt oder nicht. Wenn das Ganze etwas einzubremsen ist, habe ich, haben wir derzeit noch keine Bedenken. Aber das kann in wenigen Tagen schon überholt sein. Da spielen sogar Faktoren wie das Wetter unter Umständen eine Rolle.
esanum: Ein Kritikpunkt ist derzeit die finanzielle Ausstattung der Krankenhäuser. Stichwort: Medizinische Einrichtungen wurden kaputtgespart. Wie sehen Sie das?
Pförringer: Da möchte ich entschieden widersprechen. Was heißt „kaputtgespart“? Schauen wir uns die Zahlen an: Italien hat ca. 8 Beatmungsplätze pro 100.000 Einwohner, wir haben etwa 34. Im europaweiten Vergleich stehen wir sehr gut da. Und wenn der Gesundheitsminister rational davon spricht, wir hätten zu viele Krankenhäuser, dann denkt er natürlich nicht daran, Intensivkapazitäten abzubauen. Also ich glaube nicht, dass wir kaputtgespart sind, noch werden.
esanum: Wie bewährt sich jetzt die Digitalisierung in der Medizin?
Pförringer: Für mich als „Digitalisator“ sind das jetzt auch positive Zeiten. Weil wir jetzt zeigen können, was wir alles „remote“ schaffen. Wenn wir das Gesundheitswesen mit der Realwirtschaft vergleichen, ist es ähnlich wie bei Geschäftsreisen. Da zeigt sich in der jetzigen Situation, dass es deutlich weniger „kriegsentscheidend“ ist für ein Meeting von Düsseldorf nach Berlin zu fliegen, als wir bis dato dachten. Ich hatte heute schon vier Telefon-Video-Konferenzen. Das wären früher alles physische Meetings gewesen. Und ich denke, wir waren heute nicht weniger effizient. So ist es auch in der Medizin: einige Themen können durchaus aus der Ferne gelöst werden. Patienten rufen jetzt an und wünschen eine Tele-Konsultation. Eine Spritze kann ich natürlich auf diesem Wege nicht verabreichen, aber ich kann in vielerlei Hinsicht helfen und beraten.
Denken wir beispielsweise auch an Reha-Kliniken, an Nachsorge-Termine, an Befragungen und Beratungen. All das kann natürlich gut telemedizinisch abgebildet werden. Beispielsweise Caspar Health - das ist die digitale Rehabilitation, basierend in Berlin. Die haben jetzt einen erfreulich großen Zulauf, weil die Deutsche Rentenversicherung niemanden mehr physisch in eine Reha-Klinik schickt. Das betrifft ja gerade die Patienten, die zu den Risikogruppen gehören. Für ein paar Übungen muss in diesen Zeiten niemand in eine Reha-Klinik einrücken oder zwingend zu einem Physio-Therapeuten gehen. Das ist derzeit enorm nützlich. Ebenso im tiermedizinischen Bereich, wo Dr. Sam hervorragende Dienste für Patienten auf vier Pfoten aus der Ferne offeriert.
Jetzt werden vielen die Augen dafür geöffnet, was alles remote zu lösen ist.
esanum: Sehen Sie die Krise demnach auch als Chance?
Pförringer: Ja, durchaus. Viele leisten wirklich Erstaunliches. Ob das die pharmazeutische Industrie ist, die mit Hochdruck an verschiedenen Polymerase-Hemmstoffen und an potenziellen Impfstoffen forscht. Oder auch die Drägerwerke, die die Kapazitäten für medizinisch-technisches Gerät hochfahren oder die Firma B. Braun, die alles tut, um den Markt mit mehr Desinfektionsmitteln zu versorgen als sonst. Da kann man mit Fug und Recht sagen: Deutschland funktioniert hervorragend.
esanum: Wie erleben Sie die Ausgangssperre in München?
Pförringer: Das öffentliche Leben kommt vollständig zum Erliegen. Es ist eine absolute ökonomische Katastrophe. Viele junge Unternehmer in der Gastronomie und im Handel werden in den Ruin gehen. Die volkswirtschaftlichen Folgen sind überhaupt nicht abzuschätzen.
Und ich erlebe in meinem Wohnhaus etwas, was ich seit Kinderzeiten nicht mehr erlebt habe: Es riecht nach frisch gekochtem Essen. Das gab es hier sonst nicht. Entweder haben alle im Restaurant gegessen oder sie haben sich etwas liefern lassen. Jetzt kochen sie wieder zuhause. Das ist doch mehr als erfreulich. Auf die Geburtenraten bin ich ebenso gespannt wie auf die Scheidungsraten.
Niemand weiß derzeit den Königsweg. Aber eins ist klar: Solidarität hilft, Zusammenhalt ist extrem wichtig. So stelle ich mir die Luftbrücke damals in Berlin vor. Nicht fragen, was es bringt, helfen wir einander, packen wir es an, halten wir zusammen. Und sofort nach der Krise: bitte NICHT online konsumieren, nein, unterstützen wir unsere lokale Wirtschaft, direkt vor der Tür, direkt in unserer Umgebung. Der Einzelhandel, die Gastronomie, das ist Teil unserer Kultur, unserer Lebensqualität – ich werde alles tun, was in meiner bescheidenen Macht steht, um das zu erhalten. Für uns und für künftige Generationen.
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