Die Multiple Sklerose ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS). Autoreaktive T-Lymphozyten verursachen -nach Überwindung der Blut-Hirn-Schranke- lokale Entzündungsreaktionen im ZNS. Diese demyelinisierende Erkrankung beginnt häufig im jungen Erwachsenenalter und zeigt unterschiedliche Verlaufsformen. Wiederholte inflammatorische Prozesse können mit körperlichen Symptomen einhergehen, die in einer anhaltenden Behinderung resultieren können. Um Entzündungsschübe rechtzeitig zu erkennen ist die regelmäßige Diagnostik mittels Kernspintomographie des Gehirnes der betroffenen Person notwendig. Bei der rechtzeitigen Erkennung dezenter Pathologien im Gehirn ergeben sich jedoch einige Schwierigkeiten. Prof. Dr. med. Achim Gass ist Oberarzt an der Universitätsmedizin Mannheim und der Projektleiter bei einem hochinnovativen Projekt, welches die Lösung dieser diagnostischen Problematik zum Ziel hat. Durch die Anwendung einer auf Künstlicher Intelligenz basierenden Voxel-Guided Morphometry (VGM)-Analysemethode soll zukünftig die exakte Therapiesteuerung bei Multipler Sklerose nicht nur möglich werden, sondern auch Einzug in den klinischen Alltag nehmen. Aktuell wird die Voxel-Guided Morphometry ausschließlich zu Forschungszwecken angewendet. An diesem zukunftsweisenden Projekt beteiligt sind die Universitätsmedizin Mannheim mit den Lehrstühlen für Neurologie/Neurologische Bildgebung und Computerunterstützte Klinische Medizin sowie das Heidelberger Softwareunternehmen mediri und die MedicalSyn GmbH aus Stuttgart, die die Verwaltung der klinischen Studiendaten übernehmen.
esanum: Professor Gass, aktuell arbeiten Sie an einem hochinnovativen Modellprojekt, welches durch die Kombination der Voxel-Guided Morphometry des Gehirns mit einem KI-basierten Analyseverfahren die verbesserte Therapiekontrolle bei Multipler Sklerose (MS) zum Ziel hat. Diese Methode wurde bisher nur in der Forschung eingesetzt. Welche Möglichkeiten bietet die Kombination aus der Voxel-Guided Morphometry des Gehirns und der Analyse mit Hilfe Künstlicher Intelligenz für die MRT-Auswertung bei Multipler Sklerose?
Gass: Das Ganze hat mehrere Aspekte. Für die Therapiebegleitung von MS-Patientinnen und MS-Patienten ist es sehr wichtig, dass man Hinweise darauf bekommt, ob noch entzündliche Aktivität der Erkrankung vorhanden ist. Bei der MS entwickeln sich ja bekanntermaßen Läsionen im Bereich des Gehirns. Aufgrund einer autoimmunen Neigung kommt es immer wieder zu solchen Läsionen. Durch eine medikamentöse Therapie - unterstützt durch geeignete Lebensführungsmaßnahmen - versuchen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte diese autoimmune Neigung in den Griff zu bekommen. Das Ziel hierbei ist, dass keine neuen Schäden zustande kommen und langfristig keine Beeinträchtigungen der Hirnfunktionen entstehen. Dazu ist es besonders wichtig, mittels Kernspintomographie die Patientin bzw. den Patienten im Verlauf zu untersuchen. In den MRT-Bildern können pathologische Gewebeveränderungen bereits erkannt werden, bevor die Patientin bzw. der Patient Symptome ausbildet. Nicht jede kleine Veränderung im Gehirn macht auch sofort eine Funktionsstörung. Sie ist jedoch ein wichtiges Indiz dafür, ob eine Therapie funktioniert hat oder nicht. Gerade auch deswegen, weil die Veränderungen minimal sein können oder auf dem Hintergrund von schon sehr viel stattgehabter Erkrankungsaktivität schwer zu erkennen sind können uns solche innovativen Verfahren in der Diagnostik und Therapiesteuerung unterstützen. Mit Hilfe solcher moderner Verfahren wird die Erkennung kleinster morphologischer Veränderungen vereinfacht. Dadurch ist es möglich, zu erkennen, ob sich eine Veränderung ereignet hat oder ob es sich um einen stabilen Befund handelt, bei dem keine neuen Veränderungen und keine neuen Läsionen aufgetreten sind.
esanum: Auf welche Weise unterstützt die Voxel-Guided Morphometry das menschliche Auge der behandelnden Ärztin/des behandelnden Arztes?
Gass: Die Voxel-Guided Morphometry liefert dem menschlichen Auge eine Hilfestellung, weil sie automatisch beide Zeitpunkte miteinander vergleicht und auch kleine Dynamiken erfassen kann. Ihr Einsatz als Screening-Verfahren für den radiologischen Report sowie bei der neurologischen Therapiesteuerung hilft dabei, das Ganze um einiges schneller zu machen. Gleichzeitig wird auch dadurch, dass es offensichtlicher und sehr anschaulich dargestellt wird die Motivation bei allen Beteiligten größer. Nicht zuletzt die Patientin/der Patienten sind natürlich dadurch motiviert, dass sie sehen können, dass sich eine Therapie als erfolgreich darstellt und sich keine neue Krankheitsaktivität entwickelt hat.
esanum: Auf welche Schwierigkeiten stoßen aktuell die behandelnden Ärztinnen und Ärzte bei der Therapiesteuerung von Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose? Welche Vorteile bietet Ihrer Meinung nach die Voxel-Guided Morphometry für die Therapiesteuerung dieser Patientinnen und Patienten?
Gass: Die Therapiesteuerung dieser neuroimmunulogischen Erkrankung orientiert sich an dezenten morphologischen Veränderungen der mittels Kernspintomographie erhaltenen Bilder. Die Vereinfachung dieses Prozesses ist extrem wichtig. Selbst in medizinischen Topzentren ist es überhaupt nicht selbstverständlich, dass solche Vergleichsuntersuchungen im Zeitverlauf immer ganz schnell und ganz einfach zu dem gewünschten Ergebnis führen. Bei der Beurteilung dieser MRT-Bilder sind leider oft noch viele Fehlerquellen und auch Ungenauigkeiten vorhanden. Interdisziplinäre Kommunikationsschwierigkeiten erschweren diesen Prozess zusätzlich. Es ist nicht außer Acht zu lassen, dass hier zwei unterschiedliche Fachdisziplinen zusammenarbeiten, die sich zwar gut kennen, aber nicht jede Perspektive der Erkrankung oder der Messtechnik voneinander perfekt sehen können. Daher muss auch auf diese Gegebenheit geachtet werden. Die Voxel-Guided Morphometry (VGM) ermöglicht eine bessere Zusammenarbeit mit mehr Verständnis auf der einen Seite für die MS als Erkrankung und auf der anderen Seite die MRT als Methode. Das VGM-Verfahren ist besonders rechenaufwendig und daher ist die Künstliche Intelligenz eine enorme Hilfestellung, um die aufwendigen Rechenprozesse zu vereinfachen und damit auch eine umgehende Analyse zu ermöglichen. Das ist zumindest das Ziel in diesem Projekt, dass wir diese Verfahren an die auswertende Kollegin/den auswertenden Kollegen heranbringen können. Die Voxel-Guided Morphometry soll damit nicht mehr nur wissenschaftlichen Studien vorbehalten werden.
esanum: Auf welche Weise entstehen die VGM-Karten des Gehirns?
Gass: Stellen Sie sich vor, Sie sehen zwei Schichten ein und desselben Gehirns nebeneinander mit dem einzigen Unterschied, dass die Bilder in einem zeitlichen Abstand von 6-12 Monaten aufgenommen worden sind. Sie möchten nun diese direkt miteinander vergleichen. In diesem Fall könnte man eine einfache Subtraktion dieser beiden Schichten vornehmen. Dies wird auch häufig so gemacht. Nur liefert diese sehr einfache Methode oft nicht alle Informationen, die benötigt werden für die exakte Therapiesteuerung bei MS. Ein ausschlaggebender Grund hierfür ist, dass das Gehirn viel plastischer ist, als es in diesen beiden Schichten erkennbar wird. Das Gehirn ist weich, verformbar und dynamisch in seinem Wassergehalt. Zudem zeigt es eben auch subtile Veränderungen. Das VGM-Verfahren ist darauf spezialisiert nicht nur einzelne Voxel im Bild wahrzunehmen, sondern auch die Umgebung zu analysieren. Es kann erkennen, inwiefern sich diese Umgebung gegenüber der Voruntersuchung verändert hat. Die VGM integriert hierfür räumliche 3D-Informationen zu diesen zwei Zeitpunkten. Sie integriert dies über den einzelnen Bildpunkt hinaus und so ergibt sich ein iteratives, sehr rechenaufwendiges Analyseverfahren, dass am Schluss die dynamischen Veränderungen des Gehirngewebes farbig codiert darstellen kann.
esanum: Wie genau unterscheidet sich die Voxel-Guided Morphometry (VGM) von der Voxel-Based Morphometry des Gehirns?
Gass: Das scheint zwar nah beieinander zu sein, da es sich sprachlich nur in einem Begriff unterscheidet, aber tatsächlich sind es ganz unterschiedliche Ansätze, um Bilddaten zu analysieren. Die Voxel-Guided Morphometry ist darauf angelegt zwei Zeitpunkte einer einzelnen Patientin/eines einzelnen Patienten miteinander zu vergleichen. Das bedeutet, dass die Voxel-Guided Morphometry ganz individuelle Daten einer Patientin/eines Patienten im Zeitverlauf miteinander vergleicht. Die Voxel-Based Morphometry hat einen ganz anderen Ansatz. Diese Methode nimmt sich eine große Gruppe von Patientinnen und Patienten vor und vergleicht diese mit normalen Kontrollpopulationen. Die Letzteren existieren bereits. Als erster Schritt wird die Individualität eines jeden Gehirns - und da sind wir wirklich sehr individuell in der Form und Menge unserer Furchen und Windungen - vereinfacht, sodass alles übereinander passt. Dadurch verliert man jegliche Individualität. Mit der Voxel-Based Morphometry bekommt man aber vielleicht heraus, warum eine Person mit einer neurologischen Funktionsstörung an einer bestimmten Stelle statistisch wahrscheinlich eine Pathologie aufweisen könnte. Wir haben in diesem Fall eine statistische Analyse, welche die Morphometrie des Gehirns analysiert und uns als Informationen darbietet. Diese Methode gibt uns z.B. Informationen über eine statistische Abweichung der Dicke oder des Vorhandenseins einer bestimmten kortikalen Struktur. Mit diesem Ergebnis kann man sich dann auf den Weg machen und versuchen in der Folge bei der einzelnen Patientin/ dem einzelnen Patienten dieses Merkmal auch wiederzufinden. Die Voxel-Based Morphometry ist ein sehr schönes Hypothesen-Suchverfahren bei großen Populationen. Die Voxel-Based Morphometry und die Voxel-Guided Morphometry sind in gewisser Weise komplementäre oder unterschiedliche Ansätze.