Primärer Immundefekt (PID)

Angeborene oder primäre Immundefekte (PID, andere Bezeichnungen: Pathologische Infektanfälligkeit, Abwehrschwäche, Immuninsuffizienz, Immunschwäche oder  Immundefizienz) zählen zu den seltenen Krankheiten und werden immer noch zu selten diagnostiziert. In Deutschland leben vermutlich viele Tausend Betroffene ohne Diagnose

Immunologische und molekulargenetische Fortschritte ermöglichen eine Einteilung von Immundefekten in das B- und T-Lymphozyten-System (selektiv oder kombiniert), Komplementdefekten oder Immundefekten als Teilsymptome anderer genetischer Erkrankungen (PID werden in mehrjährigen Abständen von einer wissenschaftlichen Arbeitsgruppe der WHO klassifiziert und publiziert).

Wegen der stark erhöhten Infektionsgefahr werden auch genetisch bedingte Veränderungen des hämatopoetischen Systems wie angeborene Neutropenien zu den PID gezählt. Nach WHO werden acht Subgruppen von primären Immundefekten unterschieden:

Kombinierte Immundefekte des B- und T-Lymphozyten-Systems

Bei kombinierten Immundefekten sind sowohl B- als auch T-Lymphozyten betroffen. Als schwerste Krankheitsform gilt dabei der kombinierte Immundefekt (severe combined immunodeficiency, SCID) mit mengenmäßiger und/oder funktioneller Beeinträchtigung von T- und B-Lymphozyten. Kombinierte Immundefekte manifestieren sich in der Regel schon im Säuglingsalter. Dabei imponieren auffällig gehäufte opportunistische Infektionen wie Zytomegalie oder Pneumocystis jiroveci (früher carinii), zudem Lymphadenopathien, chronische Diarrhoe, Gedeihstörungen sowie entzündliche Veränderungen von Haut und Schleimhaut. Ohne Therapie würden die meisten Säuglinge innerhalb des ersten Lebensjahres versterben. Die potentiell kurative Therapieform ist die Stammzelltransplantation, in Einzelfällen ist auch eine somatische Gentherapie möglich. Beispiele für kombinierte Immundefekte sind SCID (T-B+), SCID (T-B-), Omenn-Syndrom, X-chromosomales Hyper IgM Syndrom, CD40-Mangel, CD8-Mangel, ZAP-70 Defekt oder TAP-1 und TAP-2 Defekt.

Immundefekte, bei denen ein Antikörpermangel vordergründig ist

Immundefekte, mit vordergründigem Antikörpermangel weisen entweder eine gestörte B-Zelldifferenzierung oder eine fehlende bzw. fehlerhafte T-zellabhängige Stimulation von B-Lymphozyten auf. Diese Defekte manifestieren sich aufgrund der diaplazentar übertragenen maternalen IgG-Antikörper (Nestschutz) erst im frühen Kleinkindalter. Einige werden erst im Jugend- oder sogar Erwachsenenalter erkannt. Auffallend sind Infektionen mit pyogenen Erregern wie Streptokokken und Staphylokokken. Beispiele für Immundefekte, bei denen ein Antikörpermangel im Vordergrund steht, sind X-chromosomale Agammaglobulinämie (XLA), Defekt der schweren Immunglobulinkette, selektiver Mangel an bestimmten Immunglobulin-Isotypen wie IgA-Mangel oder IgG Subklassen-Defekt, k-Ketten-Defekt, Aktivierungsinduzierter Cytidin-Desaminase-Defekt (AID-Mangel) oder Transitorische Hypogammaglobulinämie des Säuglings.

Immundefekte, bei denen ein T-Lymphozyten-Defekt im Vordergrund steht

Neben den bereits aufgeführten Erkrankungen gibt es Defekte, die hauptsächlich T-Lymphozyten betreffen. Genetik und Pathogenese dieser Gruppe von Erkrankungen sind noch nicht ausreichend erforscht. Die Symptome gleichen denen kombinierter Immundefekte. Beispiele für Immundefekte, bei denen ein T-Lymphozyten-Defekt im Vordergrund steht, sind idiopathische CD4-Lymphopenie, Interleukin 2-Mangel, Defekt multipler Zytokine oder Defekte der intrazellulären lymphozytären Signaltransduktion.

Andere gut definierte Immundefekt-Syndrome

Es gibt Immundefekte, bei denen noch andere Organsysteme betroffen sind, beispielsweise das Kleinhirn beim Louis-Bar-Syndrom oder das Herz beim DiGeorge-Syndrom. Der Immundefekt steht im Vordergrund und ist hauptverantwortlich für die Symptomatik. Auffällig sind je nach Erkrankungsmuster Thrombozytopenie, Anämie, Infektionen, Autoimmunveränderungen, Ataxie, Lymphome sowie eine erhöhte Sensibilität gegenüber ionisierenden Strahlen. Beispiele für die Gruppe „andere gut definierte Immundefekt-Syndrome“ sind Louis-Bar-Syndrom, DiGeorge-Syndrom, Wiskott-Aldrich-Syndrom, Nijmegen-Breakage-Syndrom, familiäre hämophagozytierende Lymphohistiozytose (FHL) oder X-chromosomale lymphoproliferative Syndrome wie das Purtilo-Syndrom und Duncan-Syndrom.

Immundefekte mit lymphoproliferativer Erkrankung

Immundefekten mit lymphoproliferativer Erkrankung liegt eine gestörte Apoptoseinduktion zugrunde. Klinische Symptome sind vor allem geschwollene Lymphknoten, Hepato- und/oder Splenomegalie, hämolytische Anämie, Autoimmunthrombozytopenie, Neutropenie  und polyklonale Hypergammaglobulinämie. Hauptvertreter dieser Gruppe ist das autoimmune lymphoproliferative Syndrom (ALPS).

Immundefekte, assoziiert mit oder Folge einer anderen Erkrankung

Zu dieser Gruppe gehören Immundefekte, die im Rahmen anderer Systemerkrankungen auftreten. Je nach Erkrankungsform überwiegen Symptome des Immundefektes oder der Grunderkrankung. Beispiele für mit Immundefekten assoziierte Erkrankungen sind Fanconi-Anämie, Dubowitz-Syndrom, Methylmalonazidämie oder Dyskeratosis congenita.

Komplementdefekte

Es gibt eine Vielzahl von möglichen Defekten im Komplementsystem. Dabei können die Komplementfaktoren C1 bis C9 fehlentwickelt sein, aber auch die regulatorischen Faktoren wie C1-Esterase-Inhibitor oder C4-bindendes Protein. Defekte in C1, C2 und C4 manifestieren sich vor allem als systemischer Lupus erythematodes. Defekte der terminalen Komplementkaskade C5 bis 9 imponieren eher durch eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber dem Bakterium Neisseria meningitidis. Als häufigster Vertreter dieser Gruppe gilt der Defekt bzw. Mangel an C1-Esterase-Inhibitor mit Folge eines hereditären Angioödems.

Defekte der Granulozyten und Makrophagen

Defekte der Granulozyten und Makrophagen können in der Differenzierung, der Motilität und der intrazellulären Bildung von Sauerstoffradikalen liegen. Sie manifestieren sich häufig in Form von abszedierenden bakteriellen Infektionen und/oder Pilzinfektionen. Beispiele dieser Gruppe sind Kostmann-Syndrom, Shwachman-Bodian-Diamond-Syndrom, zyklische oder X-chromosomale Neutropenien sowie Leukozyten-Adhäsionsdefekte vom Typ 1 und 2.