Neue Technologien und die Digitalisierung stehen im Zentrum medizinischer Debatten. Bildgebungsverfahren, Big Data, Künstliche Intelligenz und ihr Einsatz in der psychiatrischen Praxis sind Themen, die kontrovers diskutiert werden und erhebliche – besonders auch ethische – Fragen aufwerfen.
Es klingelt an der Tür. Ich öffne und blicke zwei freundlichen, aber mir unbekannten Personen ins Gesicht. "Guten Tag, Frau Zakirova. Wir kommen im Auftrag der psychiatrischen Observationsstelle für Krisenprävention und psychische Gesundheit und möchten bei Ihnen gern einen Wellness-Check durchführen. Uns liegen Datenanalysen vor, nach denen es bei Ihnen in den nächsten Tagen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Psychose kommen wird. Ihrer Patientenakte entnehmen wir, dass Sie bereits früher wegen depressiver Episoden psychiatrische Hilfe in Anspruch genommen haben, daher fallen Sie in die von uns zu observierende Zielgruppe. Wir möchten Sie bitten, mit uns zur Abklärung in die Klinik zu fahren."
So oder ähnlich könnte sie aussehen, die schon fast gegenwärtige Zukunft der KI-gestützten Psychiatrie. Möglich geworden ist das, was unvorstellbar erscheint, schon lange. Der Realisierung all dieser Möglichkeiten stehen bislang (zumindest in Deutschland noch) Gesetze im Weg. Auf dem Gebiet des Datenmanagements herrscht Verunsicherung - auch bei Ärztinnen und Ärzten.
Fest steht, dass mit der Digitalisierung eine Entwicklung eingesetzt hat, die in rasantem Tempo immer mehr Bereiche erobert, die zuvor als spezifisch menschlich galten. Dies gilt in besonderem Maße für die Künstliche Intelligenz (KI), die einen epochalen Wendepunkt in allen Bereichen des Lebens beschreibt und auch für die Medizin immer mehr an Bedeutung gewinnt. Beispiel Deep Learning: Die Nutzbarmachung von KI anhand dem menschlichen Gehirn nachempfundenen, künstlichen neuronalen Netzen.
Deep Learning nutzt selbstadaptive Algorithmen, um Datenströme zu handlungsleitenden Systemen zusammenzuführen. So kann mit ihnen die Diagnostik in vielen Bereichen verbessert werden. Solche komplexen Systeme eröffnen Möglichkeiten der Diagnose und Behandlung von Krankheiten in einem so frühen Stadium, wie es ohne sie unmöglich wäre. Besonders im Bereich der Biomarker hilft KI, bei aller Heterogenität der Krankheitssymptome, Untergruppen zu erkennen, die dann spezifisch behandelt werden können. Die Anwendungsfelder von KI, die Potenzial für die Optimierung von diagnostischer und therapeutischer Praxis liefern, sind vielfältig und komplex.
Prädiktive und prognostische Indikatoren bringen jedoch auch die Frage der Grenzziehung mit sich: Ab welcher Wahrscheinlichkeit wird interveniert? Wer bestimmt diese Notwendigkeit, wer verantwortet sie? Könnte es dazu kommen, dass nicht der Mensch, der (noch) gar nicht leidet, behandelt wird, sondern sein Biomarkerprofil?
Zurück zur ausgedachten Eingangsszene: Bin ich als Patientin froh, dass meine voraussichtlich in den nächsten Tagen einsetzende Psychose vom Algorithmus erkannt wurde und ein Hilfesystem in Gang setzt, das mich bestmöglich betreut? Oder fühle ich mich in eine Situation gezwungen, die nicht meiner tatsächlich empfundenen Verfassung entspricht? Ging der Intervention meine Zustimmung zur Datensammlung und -analyse voraus? Unter welchen Umständen habe ich eingewilligt? Wer verwaltet meine Daten, wem sind sie zugänglich, woher werden sie bezogen? Wer besitzt die Datenhoheit, welche monetären Interessen sind damit verbunden, welche Netzwerke und Kooperationen erstellen mein Biomarkerprofil, das dann einer Analyse und Bewertung zugeführt wird und schließlich meine Person beschreibt?
Technologieaffinität und Technologiepessimismus scheinen die beiden Pole zu sein, zwischen denen der medizinische Diskurs mäandert. Die Diskussion um Mögliches und Unmögliches und die Frage „Wohin führt der Weg?“ muss vor allem unter dem Aspekt der Navigation geführt werden.