Hormonelle Kontrazeptiva: Suizidalität steht im Beipackzettel - Hinweis-Empfehlung trotz fehlender Kausalität
Eine aktuelle Änderung im Beipackzettel von hormonellen Kontrazeptiva könnte zu vermehrtem Beratungsbedarf in der gynäkologischen Praxis führen: Es wird dort nun explizit auf das Risiko von Suizidalität infolge der Nebenwirkung Depression hingewiesen.
Im November 2018 erfolgte eine entsprechende Mitteilung durch das BfArM. Grund ist ein kürzlich abgeschlossenes Signalverfahren, das der Pharmakovigilanz-Ausschuss (PRAC) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) durchgeführt hat. Dabei ging es um das mögliche Risiko von Suizid und Suizidversuch bei der Anwendung hormoneller Kontrazeptiva.
Hinweis-Empfehlung trotz fehlender Kausalität
Fazit des Expertengremiums: Nach bisheriger Datenlage ist kein eindeutiger Kausalzusammenhang zu ermitteln. Da aber die Nebenwirkung Depression als bekannt gilt, soll auch auf die Suizidalität als mögliche Folge einer Depression hingewiesen werden. Der neue Warnhinweis in den Fach- und Gebrauchsinformationen zu hormonellen Kontrazeptiva lautet folgendermaßen:
-
Fachinformation
4.4. Besondere Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung Depressive Verstimmung und Depression stellen bei der Anwendung hormoneller Kontrazeptiva allgemein bekannte Nebenwirkungen dar (siehe Abschnitt 4.8). Depressionen können schwerwiegend sein und sind ein allgemein bekannter Risikofaktor für suizidales Verhalten und Suizid. Frauen sollte geraten werden, sich im Falle von Stimmungsschwankungen und depressiven Symptomen - auch wenn diese kurz nach Einleitung der Behandlung auftreten - mit ihrem Arzt in Verbindung zu setzen.
Gebrauchsinformation
2. Was sollten Sie vor der Anwendung von (Bezeichnung des Arzneimittels) beachten? Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen
Psychiatrische Erkrankungen:
Manche Frauen, die hormonelle Verhütungsmittel wie (Bezeichnung des Arzneimittels) anwenden, berichten über Depression oder depressive Verstimmung. Depressionen können schwerwiegend sein und gelegentlich zu Selbsttötungsgedanken führen. Wenn bei Ihnen Stimmungsschwankungen und depressive Symptome auftreten, lassen Sie sich so rasch wie möglich von Ihrem Arzt medizinisch beraten.
Die Arzneimittelhersteller mussten die überarbeiteten Dokumente den Behörden bis zum 29. Dezember 2018 zur Prüfung vorlegen. Die Umsetzung finden Sie beispielhaft hier in der Fachinformation von Aristelle® in den Abschnitten 4.4 („Besondere Warnhinweise …“, S. 4 rechts unten/S. 5 links oben) und 4.8 („Nebenwirkungen“, Tabelle auf S. 7).
Auslöser für das Signalverfahren: eine dänische Kohortenstudie
Auslöser des Bewertungsverfahrens und der resultierenden PRAC-Empfehlung waren die Ende 2017 publizierten Ergebnisse einer dänischen Beobachtungsstudie1. Für die prospektive Kohortenstudie wurden die Daten von fast 500.000 Däninnen aus den Jahren 1996 bis 2003 erfasst. Die eingeschlossenen Frauen wurden erst während der Studienlaufzeit 15 Jahre alt und hatten zuvor weder eine psychiatrische Diagnosen erhalten noch Antidepressiva oder hormonelle Kontrazeptiva eingenommen.
Die Altersspanne reichte von 15 bis 33 Jahre, das mittlere Alter betrug 21 Jahre. Im durchschnittlich 8,3 Jahre währenden Beobachtungszeitraum wurden 6.999 erste Suiziddversuche und 71 vollendete Suizide registriert.
Datenanalyse ergibt erhöhtes relatives Risiko, differenziert nach Applikationsform
Der Anteil der Frauen, die aktuell oder bis vor 6 Monaten hormonelle Kontrazeptiva einnahmen, lag bei 54 %. Im Vergleich mit Frauen, die nicht hormonell verhüteten, war das relative Risiko für einen Suizidversuch zweifach und für einen vollendeten Suizid dreifach erhöht (1,97 bzw. 3,08). Das höchste relative Risiko war unter Adoleszenten zu beobachten. Für erstmalige Selbstmordversuche zeichnete sich nach zweimonatiger Kontrazeptiva-Einnahme ein Häufigkeitsgipfel ab.
Für die verschiedenen Darreichungsformen ermittelten die Wissenschaftler unterschiedliche Risikoabschätzungen für einen Suizidversuch: 1,91-fach für orale Kombinationspräparate; 2,29-fach für orale Gestagenpräparate; 2,58-fach für Vaginal-Ringe; 3,28-fach für Hormonpflaster.
Das Forscher-Team um den Gynäkologen Prof. Oejvind Lidegaard vom Rigshospitalet der Universität Kopenhagen beschäftigt sich seit längerem mit dem Thema und wertet dafür die in Dänemark verfügbaren nationalen Registerdaten aus. In einem Ende 2016 publizierten Paper2 berichtete die Gruppe über einen Zusammenhang zwischen der Verschreibung hormoneller Kontrazeptiva und der nachfolgenden Erstverordnung von Antidepressiva und Stellung der Diagnose Depression vor allem bei jungen Frauen.
Ändert sich durch diese Studiendaten etwas?
Finden die möglichen psychischen Auswirkungen der hormonellen Kontrazeption bis hin zum Suizidrisiko zu wenig Beachtung, wie die dänischen Autoren meinen? Müssen das öffentliche und das ärztliche Bewusstsein dafür geschärft werden?
Vom fachlichen Standpunkt aus gesehen wohl kaum. Eine epidemiologische Studie kann keine Kausalität beweisen und die verfügbare Datenlage bietet alles andere als ein klares Bild. 2016 erst kamen Gynäkologen von der Ohio State University (Columbus, USA) in einem Review3 zu folgendem Schluss bezüglich kombinierter hormoneller Kontrazeptiva (KOK): Bis mehr prospektive Daten vorliegen, sollten sich die Ärzte bewusst machen, dass derartige Nebenwirkungen selten sind und KOK weiterhin beruhigt („with confidence“) verordnet werden können.
Ein Stück solcher prospektiven Evidenz lieferte beispielsweise 2017 eine randomisierte kontrollierte Studie4 mit einem gängigen Kombi-Präparat (Levonorgestrel/Ethinylestradiol): Zwar fanden sich in der schwedischen Untersuchung signifikante Hinweise auf ein vermindertes Wohlbefinden der Anwenderinnen, nicht aber auf eine depressive Symptomatik.
Und das Autorenteam aus Ohio legte 2018 einen weiteren systematischen Review5 vor, diesmal mit Blick auf rein Gestagen-basierte Verhütungsmittel. Die Forscher identifizierten für ihre Analyse 26 geeignete Veröffentlichungen, darunter fünf randomisierte kontrollierte Studien, elf Kohorten- und zehn Querschnittsstudien. Ihre Schlussfolgerung: Obwohl es „in der Community“ die Wahrnehmung einer Zunahme von Depression nach Beginn einer Gestagen-basierten Kontrazeption gebe, spreche die vorherrschende Evidenz nicht für eine „Assoziation auf der Grundlage validierter Maßnahmen“.
Fazit für die Praxis:
- Das Wechselwirkungspotenzial zwischen Sexualhormonen und Psyche ist bekannt. Deshalb sollte bei der Kontrazeptiva-Verordnung und der gynäkologischen Betreuung die seelische Gesundheit der Anwenderinnen immer miterfasst und berücksichtigt werden.
- Bei einer Depression, die als seltene Nebenwirkung der hormonellen Verhütung zu berücksichtigen ist, steigt die Gefahr suizidaler Handlungen. Ein entsprechender Hinweis wurde nun auf behördliche Veranlassung in Beipackzettel und Fachinformation von hormonellen Kontrazeptiva aufgenommen.
- Die Risikobewertung der Experten ersetzt nicht die individuelle und ausführliche Nutzen-Risiko-Abwägung in Zusammenarbeit mit der Anwenderin. Dabei ist die empathische und umfassende Verhütungsberatung, auch über alternative Optionen, eine essenzielle und mitunter herausfordernde Aufgabe in der gynäkologischen Praxis.
- Ein kausaler Zusammenhang zwischen hormoneller Verhütung und gesteigerter Suizidgefahr ist bisher nicht belegt. Wissenschaftlich unkorrekte Schlagzeilen wie „Pille fördert Suizid“ in Publikums- und auch Fachmedien sind für die Informiertheit der verhütungsinteressierten Frauen nicht gerade zuträglich. Vielmehr bläst sie noch mehr Wind in die zu beobachtende „Anti-Hormon-Bewegung“, die präventive gynäkologische Aufklärung zu einer besonders wichtigen Angelegenheit macht.
- Skovlund CW et al. Association of Hormonal Contraception With Suicide Attempts and Suicides.
- Skovlund CW et al. Association of Hormonal Contraception With Depression. JAMA Psychiatry 2016;73(11):1154-62. doi: 10.1001/jamapsychiatry.2016.2387.
- Schaffir J et al. Combined hormonal contraception and its effects on mood: a critical review. Eur J Contracept Reprod Health Care. 2016;21(5):347-55. doi: 10.1080/13625187.2016.1217327.
- Zethraeus N et al. A first-choice combined oral contraceptive influences general well-being in healthy women: a double-blind, randomized, placebo-controlled trial. Fertil Steril. 2017;107(5):1238-45. doi: 10.1016/j.fertnstert.2017.02.120
- Worly BL et al. The relationship between progestin hormonal contraception and depression: a systematic review. Contraception 2018;97(6):478-89. doi: 10.1016/j.contraception.2018.01.010.
Abkürzungen:
BfArM = Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte