Eine letzte Reise noch – Virtual Reality in der Palliativmedizin
Virtual Reality ist nun auch in Frankreich ein wichtiges Thema in der Palliativmedizin. Wie die VR-Technologie die Palliativversorgung verbessert und welche Chancen diese für Menschen am Lebensende bietet, berichtet Dr. Charlotte Decher.
Virtuelle Realität in der palliativmedizinischen Versorgung
Übersetzt aus dem Französischen
Nach dem Royal Trinity Hospice1 in London und dem Ashiya Hospital2 in Hyogo, Japan ist Virtual Reality (VR) nun auch in Frankreich für palliativmedizinische Einrichtungen verfügbar.
Dr. Charlotte Decherf ist Ärztin auf der Palliativstation des Hôpital du Bois im nordfranzösischen Lille. Auf ihrer Station wird seit kurzem mit dem Einsatz von virtuellen Welten experimentiert. Auf der benachbarten onkologischen Station kamen VR-Systeme bereits im Rahmen von Chemotherapien zum Einsatz. Dabei konnten die palliativen Patienten das berühmte Museum Louvre-Lens besuchen.
Nachdem ihnen Patientinnen und Patienten von ihrem Leben und ihren Traumreisen berichtet hatten, entschloss sich das Palliativpflegeteam dazu, ihnen ein Immersions-Programm "à la carte" anzubieten. So konnte ein 70-jähriger Mann auf den Spuren seiner Hochzeitsreise noch einmal nach Venedig reisen. Andere unternahmen eine virtuelle Fahrt mit einem Hundeschlitten oder besuchten ein virtuelles Konzert.
Ablenkung und Beruhigung erleichtern die Palliativversorgung
Menschen in ihrer letzten Lebensphase sind belastenden Symptomen und ständigen Ängsten ausgesetzt, die sich aus der Verschlechterung ihres Zustands oder der Aussicht auf eine schmerzhafte Therapie ergeben - beispielsweise dem Einsetzen einer Huber-Nadel oder einer Blutgasanalyse. Das Krebszentrum Léon-Bérard in Lyon war ein Vorreiter beim Einsatz von virtueller Realität in der medizinischen Betreuung. Im Laufe der Zeit fand die VR-Technologie ihren Platz auf der Palliativstation in Form eines 3D-Entspannungsprogrammes.
Für etwa 20 Minuten begibt sich der Nutzer dabei auf eine 360°-Rundreise in einer beruhigenden Umgebung mit Geräuschkulisse. Besonders beliebt ist das Tauchen mit einem Wal, bei dem Atem- und sophrologische Übungen sowie Selbsthypnose miteinander kombiniert werden. Der Reisende sitzt oder liegt entspannt und lässt sich vom Computer-gesteuerten Auf und Ab der Schwanzflosse des Wals sanft in den Schlaf wiegen. Klaustrophobiker dagegen bevorzugen lieber einen virtuellen Spaziergang bei Sonnenuntergang.
Die mit Hilfe von Virtual Reality erlernten Entspannungsmethoden lassen sich dann jederzeit abrufen und wieder anwenden. Daher ist der Einsatz von VR eine gute Ergänzung zur Hypnose-Therapie, die in der Klinik ohnehin häufig zur Anwendung kommt. "Bei einem Patienten funktionierte die Hypnose nicht, weil er zu sehr in der Realität gefangen war. Daraufhin probierte er die VR-Brille aus, und das hat dann funktioniert", berichtet Sullivan Gérard, Krankenpfleger auf der Palliativstation.
Hohe Wirksamkeit und bessere Lebensqualität
Ein weiterer Vorteil beim Einsatz von VR liegt in der Linderung von körperlichen Beschwerden. Wunden von Tumoren müssen oft lange, aufwändig und unter Schmerzen verbunden werden. Gérard schildert die Erfahrungen einer Patientin: "Sie hatte starke Schmerzen beim Verbinden und musste im Vorfeld ein angstlösendes Medikament einnehmen. Wir gaben ihr während der Behandlung Meopa, eine Mischung aus Lachgas und Sauerstoff mit schmerzlindernder Wirkung. Dank Virtual Reality brauchte sie keine Medikamente mehr. Ihre Angst vor der Behandlung sank von 7/10 auf 0 und sie hatte auch keine Schmerzen mehr.“
Die 2019 auf dieser Station durchgeführte Studie3 – eine Premiere für Frankreich – ist überzeugend: Bei den zehn Teilnehmenden stellte das palliativmedizinische Fachpersonal eine Schmerzreduktion von 50 % und eine Angstreduktion von 50 bis 100 % fest. Gérard weist noch auf einen dritten Effekt der VR-Brille hin: "Die Patienten müssen die Wunde während der Behandlung nicht mehr ansehen. Das erspart ihnen die schwierige Konfrontation mit ihrem geschundenen Körper."
VR als behutsamer Ansatz in der Palliativmedizin
Auch wenn die Einführung der 3D-Technik auf diesen Stationen eher empirisch erfolgte, ist die Vorgehensweise doch sehr genau geregelt. "Wir achten im Vorfeld auf Kontraindikationen wie Krampfanfälle oder Kopfschmerzen", erklärt Dr. Decherf. Das Pflegepersonal achtet genau auf mögliche unerwünschte körperliche Reaktionen. "Das Headset ist zwar leicht, aber die meisten Patienten sind geschwächt und können ihren Kopf nur mit Mühe bewegen, vor allem wenn sie Knochenmetastasen haben. 15 Minuten sind schon viel," erklärt die Ärztin und weist darauf hin, dass die Betroffenen die Behandlung jederzeit durch Abnehmen des Virtual-Reality-Headsets abbrechen können.
Die Auseinandersetzung eines Sterbenden mit seiner Vergangenheit oder mit Dingen, die er nicht mehr "in echt" erleben kann, darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Die psychologischen Aspekte werden sorgfältig abgewogen, um das Entstehen einer Depression zu vermeiden. Virtuelle Realität ist keine frei zugängliche Dienstleistung, denn die Patienten werden an ihrem Lebensende begleitet. "Zeigt jemand Interesse, bleibt die Psychomotorikerin in den ersten fünf Minuten bei der Person im Zimmer. Anschließend verlassen wir das Zimmer und gewährleisten so die Privatsphäre des Patienten" erklärt Dr. Decherf. Dieser Ansatz zahlt sich aus: Nach seinem virtuellen Spaziergang durch Venedig war der Patient tief ergriffen, aber nicht am Boden zerstört.
Die Initiative muss dabei immer vom Patienten ausgehen. Bei der Entwicklung von virtuellen Welten ist Vorsicht geboten, denn "maßgeschneiderte" Filme sind heute kein Problem mehr. Schon morgen könnte sich der Patient auf die Hochzeit eines Verwandten begeben. "Wir müssen unbedingt die intimen Wünsche des jeweiligen Patienten respektieren und dürfen uns nicht anmaßen, das Denken für ihn zu übernehmen. Sonst besteht die Gefahr, dass Ängste und Frustrationen ausgelöst werden. Wir würden uns gerne mit anderen Teams austauschen, die ebenfalls mit Virtual Reality arbeiten, um die Vorteile, aber auch die Grenzen dieser Technologie auszuloten," erläutert Dr. Decherf.
Virtuelle Realität und die Begleitung am Lebensende
Angehörige, die so viel Zeit wie möglich mit dem Patienten verbringen möchten, könnten sich durch virtuelle Realität verunsichert fühlen. Aber das ist nicht der Fall. Im Krankenhaus von Le Bois unternahm der Sohn einer Patientin sogar dieselbe Reise unmittelbar nach ihr, um sich ein Bild von ihrer Sitzung zu machen. Selbst Patienten, die sich auf ihre Schmerzen konzentrierten, fanden neue Gesprächsthemen mit ihrer Familie und dem Palliativpflegepersonal. Ein Patient und ein Angehöriger könnten sogar eine gemeinsame Erfahrung machen und zusammen dieselbe Reise unternehmen. Dazu müssten allerdings zwei Virtual-Reality-Brillen angeschafft werden, was keine unerhebliche Investition wäre.
Derzeit finden die Sitzungen außerhalb der Besuchszeiten statt, oft am Abend, wie uns Herr Gérard anvertraute, "damit die Patienten die Zeit mit ihren Angehörigen genießen und danach in Ruhe ihre Reise erleben können". Das Herzstück allen Handelns in der Palliativversorgung bleibe die zwischenmenschliche Beziehung zu den Angehörigen und den Pflegekräften.
Diese Pilotprojekte sind neu und haben nur einen begrenzten Umfang – ein paar wenige Nutzer in Lille, ein Dutzend in Lyon. Obwohl die Ergebnisse vielversprechend sind, stellen die Kosten für die Ausrüstung ein reales Hindernis für den Einsatz virtueller Realität in der Palliativmedizin dar. Das Centre Léon Bérard hat 3.000 EUR für die VR-Brille bezahlt und möchte nun noch weitere Geräte anschaffen. Aufgrund der Ergebnisse der bereits durchgeführten Studie hat das Palliativpflege-Team einen Antrag für ein Forschungsprojekt eingereicht. Auf diese Weise könnten neue Geräte zur Fortsetzung der Arbeit finanziert werden, möglicherweise auch in Form einer großen Studie in Zusammenarbeit mit anderen Krebszentren.
- https://www.artsy.net/article/artsy-editorial-virtual-reality-helping-hospice-patients-check-bucket-lists
- http://www.asahi.com/sp/ajw/articles/AJ201803190001.html
- Réalité virtuelle et soins palliatifs, un complément dans la prise en charge - Virtual reality and palliative care, a complement in the care provision - Doi: 10.1016/j.revinf.2019.06.011