Ozempic zum Abnehmen?

Das Antidiabetikum Semaglutid erhält derzeit auch unter Laien als „Abnehmspritze“ zunehmende Aufmerksamkeit. Turbo-Lösung oder Eintagsfliege?

Erheblicher Jojo-Effekt

Ursprünglich für die Therapie des Diabetes Typ 2 entwickelt, wirkt Ozempic® auch als Appetitzügler. Vielen Patienten, die mittels Spritze schnell abnehmen möchten, ist nicht bewusst, dass es hierbei auf eine Daueranwendung hinausläuft. Nach dem Absetzen kämen die verlorenen Pfunde ansonsten wieder drauf. Laut einer 2022 veröffentlichten, peer-reviewten Studie zu der ähnlich gehypten Abnehmspritze Wegovy® (ebenfalls Semaglutid) nahmen die Patienten innerhalb eines Jahres nach dem Absetzen zwei Drittel des verlorenen Gewichts wieder zu.2 Die meisten kardiometabolischen Verbesserungen, die anfänglich beobachtet wurden, fielen ebenfalls auf den Ausgangswert zurück.

Nebenwirkungen ernster als gedacht?

Bei einer so breiten Verwendung dieser Medikamente kämen zudem auch die selteneren Nebenwirkungen viel mehr zum Tragen und die Risiko-Nutzen-Rechnung würde in dieser Indikation von der bei Patienten mit Diabetes abweichen, schreiben kanadische Forscher im JAMA.3,4 Als häufige bis sehr häufige Nebenwirkungen sind Übelkeit, Erbrechen, Diarrhoe, Obstipation, Gastritis, Bauchschmerzen und Spannungsgefühl, Reflux, Dyspepsie, Aufstoßen und Blähungen bereits bekannt und vermerkt. Vergangene Woche erweiterte die US-Arzneimittelbehörde FDA die Produktinformation von Ozempic® um einen Hinweis auf Ileus.

Als ernste, gelegentliche Nebenwirkungen galten Pankreatitis und Gastroparese. Die von einer Gastroparese betroffenen Anwender scheinen inzwischen aber doch zahlreich genug, als dass US-amerikanische Anwaltskanzleien die Fälle bereits in Vorbereitung einer Sammelklage bündeln.5,6 Der Vorwurf der Kläger lautet, dass diese Nebenwirkungen verschwiegen oder kleingeredet worden seien. Eine Gastroparese ist nicht heilbar und erfordert, einmal entwickelt, eine oft lebenslange Behandlung (chirurgisch oder medikamentös), um Folgen wie Erbrechen, Übelkeit und Malnutrition zu lindern.6 In schweren Fällen kommen eine partielle Sleeve-Gastrektomie, ein Magenbypass, ein gastraler Neurostimulator und als ultima ratio eine dauerhafte enterale Ernährung in Betracht.

Eine aktuelle Metaanalyse von 76 Studien hat außerdem einen Zusammenhang zwischen GLP-1-Agonisten wie Ozempic® und Wegovy® und Gallenblasenerkrankungen bestätigt, insbesondere bei höherer Dosierung, längerer Einnahmedauer und bei Anwendung zur Gewichtsabnahme.7

Ohne Ernährungsumstellung und Bewegung geht es nicht

Da es keine kausale Behandlung darstellt, kann Ozempic® vor allem nicht verhindern, dass immer mehr Menschen übergewichtig werden. Eine von Fachleuten häufig geäußerte Sorge ist, dass dieser Ansatz Lebensstiländerungen unwahrscheinlicher machen und von den Hauptursachen der Übergewichtsepidemie – wie etwa zugesetzten Zuckern oder hoch verarbeiteten Lebensmitteln – ablenken könnte. Wozu auf schnelles Take away-Essen verzichten oder fleißig Sport machen, wenn die Kilos dank der Spritze auch so purzeln? Gesunde Entscheidungen kosten anfangs Überwindung, bis derjenige nach kurzer Zeit eine positive Veränderung seines Befindens spürt. Wer diese Motivation schon so nicht aufbringt, wird möglicherweise unter Ozempic® noch weniger Notwendigkeit dazu verspüren, selbst aktiv zu werden. Es gebe den Wunsch, so ein Mittel zu nehmen und ansonsten weiterzumachen wie bisher, sagte auch der Geschäftsführer des Geschäftsbereichs Arzneimittel der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (Abda), Martin Schulz, anlässlich einer Pressekonferenz der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG).8

Ozempic® demnächst sogar für Kinder?

Calley Means, ehemaliger Berater großer Lebensmittel- und Pharmakonzerne (unter anderem Coca Cola), sprach in einer Folge von „The Doctor’s Farmacy“ im Kontext von Ozempic® auch über das wachsende Übergewichtsproblem bei Kindern.Nach Angaben der American Academy of Pediatrics (AAP) werden bis 2050 (gleichbleibende Trends vorausgesetzt) 57% der Kinder zwischen 2 und 19 Jahren übergewichtig sein. Doch die Prävention von Übergewicht bei Kindern wird von den kürzlich aktualisierten Leitlinien nicht thematisiert.10

Übergewichtigen Kindern Medikamente zur Gewichtsabnahme zu verschreiben, wird aus Teenagern lebenslange Patienten machen, warnt Means.10 Wenn ein Kind Ozempic® erhält und sich weiterhin ungesund ernährt und sich nicht bewegt, wird es zudem (metabolisch) trotzdem nicht gesund sein und andere Krankheiten bekommen.11

Er weist außerdem auf mögliche Auswirkungen auf die psychische Gesundheit hin. Da 95% des Serotonins von der Darmflora synthetisiert werden und Ozempic®, wie oben skizziert, mit gastrointestinaler Dysfunktion einhergeht, müssen Berichte über einen möglichen Zusammenhang mit Selbstmordgedanken ernst genommen werden.6 Der EMA liegen 150 Berichte von suizidaler Ideation unter Ozempic® vor, in den USA muss Wegovy® bereits eine entsprechende Warnung zu suizidalem Verhalten tragen. Eingedenk des ohnehin schon explosionsartigen Anstieges von Ängsten und Depressionen unter Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren ist hier sicher keine Luft für Fehler.

Lebenslange medizinische Intervention, anstatt das ursächliche Problem anzugehen?

Wir befinden uns inmitten einer weltweiten metabolischen Gesundheitskrise: Jeder achte Mensch weltweit ist übergewichtig, wobei sich der Anteil der Kinder in den letzten drei Jahrzehnten vervierfacht hat.12 Unser kaputtes Lebensmittelsystem und die Politik, die es beeinflusst, sind daran schuld: Die Begünstigung von verarbeiteten Getreidesorten, raffiniertem Zucker und zuckergesüßten Getränken aus Profitgründen hat einen Nährboden für Inflammation, Insulinresistenz, Übergewicht, Diabetes, Krebs und M. Alzheimer geschaffen, argumentiert auch Dr. Hyman, Arzt und 15-facher New York Times Bestseller-Autor.9

Für Calley Means sind medikamentöse Lösungen nur ein Notpflaster. "Derzeit haben wir ein System der Krankenversorgung [anstatt einer Gesundheitsversorgung], bei dem 95% der Gesundheitsausgaben für die Bekämpfung von Krankheiten ausgegeben werden, nachdem Menschen bereits krank geworden sind".13 Besser wäre, sich nicht von den Ursachen ablenken zu lassen und nicht zu warten, bis eine Erkrankung eingetreten ist und dem Geschehen erst dann medikamentös hinterherzulaufen.

Means wie Hyman sind sich einig, dass es eigentlich genug schnelle Lösungen gibt, die nicht allzu schwierig umzusetzen sind.9 Man müsste mehr Geld in die Hand nehmen, um Anreize für gesundes metabolisches Verhalten zu schaffen, das ansonsten Ursache von Krankheiten ist (gesunde Ernährung, Bewegung, Schlaf, Stressmanagement). "Das Einzige, was uns gesünder, fruchtbarer, weniger depressiv und weniger übergewichtig machen wird, ist, die Ursache an der Wurzel zu packen", so Means. "Es gibt politische Maßnahmen, die das Gift aus den Nahrungsmitteln für unsere Kinder entfernen und deren Subventionierung beenden können."10

Machbare Schritte wären auch eine Reform der Empfehlungen und Grenzwerte. Was hat Zucker in Mengen überhaupt in der Ernährung, von Kindesbeinen an, zu suchen? Oder denken wir an die food stamps (Lebensmittelwertmarken) in den USA, von denen ein schwindelerregender Teil für gezuckerte Softdrinks ausgegeben wird. Hier eine Begrenzung einzuführen oder wie in Deutschland eine Softdrink-Steuer zu diskutieren, wäre dringend.

Fazit für die Praxis

Der Grundgedanke ist durchaus nachvollziehbar. Betroffene wollen ein gesünderes Gewicht erreichen, Ärzte hoffen, Folgeerkrankungen von Übergewicht zu reduzieren. Letztere haben zugleich oft nicht die Zeit oder personellen Ressourcen, um Patienten bei den Grundproblemen von Ernährung, Bewegungsmangel und Stress so zu beraten und zu unterstützen, dass die entscheidenden Lebensstiländerungen erfolgen. Wir wissen aus diversen Studien, dass diese, wenn sie gelingen, ausnehmend effektiv sind. Blutdruck und Gewicht bessern sich, Medikamente können teils reduziert werden und Diagnosen wie Diabetes Typ 2 wieder verschwinden. Auch müssen die ersten Interventionen überhaupt nicht kompliziert sein. Ein Anfang wäre schon ein Verzicht auf zusätzlichen Zucker in Tee oder Kaffee, Verzicht auf extrem zuckerhaltige Softdrinks wie Cola und Reduzierung von Süßigkeiten und Fertiggebäck auf Ausnahmen oder idealerweise kompletter Verzicht. Allein durch diese drei einfachen Anweisungen konnten in einer Allgemeinmedizinpraxis alle 250 Patienten ihr Gewicht reduzieren (im Schnitt um 7%) und die Blutdruck- und Laborwerte etlicher Patienten normalisierten sich derart, dass Medikamente ausgeschlichen und Diagnosen wie Hypertonus oder Diabetes gestrichen werden konnten, wir berichteten hier über bereits im Kontext neurologischer Erkrankungen.

Für zugesetzte Zucker ist nicht umsonst die Bezeichnung "Tabak des 21. Jahrhunderts" geprägt worden, dennoch wurde auf Druck der Zuckerlobby eine frühere Quotenregelung entfernt, die den Zuckerzusatz begrenzte und eine wahre Zuckerschwemme, auch in herzhaften Nahrungsmitteln, nach sich zieht. Der Konsum hat erhebliche gesundheitliche und wirtschaftliche Bedeutung und gibt (neben Übergewicht) Problemen wie Inflammation, Hypertonus, Diabetes und Fettlebererkrankungen Auftrieb, die wiederum das Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Krebs erhöhen. Diese Erkrankungen haben alle zugenommen, und die Lebenserwartung ist gesunken, während wir mehr Geld ausgeben – weil wir die Ursache nicht bekämpfen, resümiert Means.9
 

Weitere Informationen zum Abnehmen und Übergewicht

Quelle:
  1. ‎Honestly with Bari Weiss: Will Ozempic Solve Obesity in America? A Debate on Apple Podcasts. Apple Podcasts
  2. Wilding, J. P. H. et al. Weight regain and cardiometabolic effects after withdrawal of semaglutide: The STEP 1 trial extension. Diabetes, Obesity and Metabolism 24, 1553–1564 (2022).
  3. Sodhi, M., Rezaeianzadeh, R., Kezouh, A. & Etminan, M. Risk of Gastrointestinal Adverse Events Associated With Glucagon-Like Peptide-1 Receptor Agonists for Weight Loss. JAMA 330, 1795–1797 (2023).
  4. GLP-1-Analoga: Schwere gastrointestinale Nebenwirkungen im Blick. Pharmazeutische Zeitung online https://www.pharmazeutische-zeitung.de/schwere-gastrointestinale-nebenwirkungen-im-blick-142785/.
  5. Ozempic Lawsuit - March 2024 Update. King Law https://www.robertkinglawfirm.com/personal-injury/ozempic-lawsuit/ (2024).
  6. Ozempic Lawsuit: What You Need To Know (March Update) – Forbes Advisor. https://www.forbes.com/advisor/legal/product-liability/ozempic-lawsuit/.
  7. He, L. et al. Association of Glucagon-Like Peptide-1 Receptor Agonist Use With Risk of Gallbladder and Biliary Diseases: A Systematic Review and Meta-analysis of Randomized Clinical Trials. JAMA Internal Medicine 182, 513–519 (2022).
  8. Hype um Wegovy und Ozempic: Experten warnen vor leichtfertiger Anwendung von Abnehmspritzen. Der Spiegel (2024).
  9. MD, M. H. Calley Means: The Obesity Crisis, Ozempic, ADHD and Food Industry Lies. Dr. Mark Hyman https://drhyman.com/blog/2024/01/31/podcast-ep848/ (2024).
  10. Sahakian, T. Ozempic is a ‘Band-Aid’ on the root of childhood obesity: toxic food, former pharma consultant says. Fox News https://www.foxnews.com/health/ozempic-band-aid-root-childhood-obesity-toxic-food-former-pharma-consultant-says (2023).
  11. Ozempic. Calley Means https://calleymeans.com/2024/01/02/ozempic/ (2024).
  12. Taylor, L. One in eight people globally are obese, with rates in children increasing fourfold in three decades. BMJ 384, q527 (2024).
  13. Calley Means. Calley Means (2024)
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