Für eine genauere Diagnostik und individualisierte Therapien spielt die Digitalisierung eine wichtige Rolle – das betonten Expert:innen in einer Sitzung der "Jungen Neurologen" auf dem DGN-Kongress 2021.
"Der digitale Wandel kommt in der Gesundheitsversorgung in Deutschland nur schleppend voran", sagt Prof. Dr. Paul Lingor, Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Neurologie der TU München, mit Verweis auf den vorletzten Platz, den Deutschland in der 2018 von der Bertelsmann-Stiftung durchgeführten internationalen Studie "#SmartHealthSystems" zu Digitalisierungsstrategien im Gesundheitswesen belegt.
In der Regelversorgung seien digitale Anwendungen bislang "kaum angekommen". Ähnliches zeigte der "eHealth Monitor 2020" der Unternehmensberatung McKinsey. Zum Beispiel kommunizierten 93 Prozent der niedergelassenen Ärzte 2019 mit Krankenhäusern immer noch vorwiegend in Papierform statt digital.
Die Corona-Pandemie könne den digitalen Wandel entscheidend vorantreiben, bemerkt Lingor in seinem Vortrag in einer DGN-Sitzung der "Jungen Neurologen". Die digitale Infrastruktur zur Pandemiebekämpfung könne "sinnvoll auch für andere Zwecke eingesetzt werden". In der bislang noch unveröffentlichten "ParCoPa"-Studie zu Folgen der Pandemie für Parkinson-Erkrankte zeigte sich eine große Nachfrage nach digitalen Angeboten, etwa Apps, digitalen Rezepten oder Video-Visiten. "Aktuell fehlen sowohl Angebote als auch Informationen für Patienten zu deren Nutzung", kritisiert Lingor.
Etabliert sind digitale Strukturen bereits in der Schlaganfallversorgung. Mobile Stroke-Units und digitale Tools tragen dazu bei, dass mehr Erkrankte in der so genannten "Golden Hour", der ersten Stunde nach Auftreten der Symptome, behandelt werden, was neurologische Dauerschäden meist abwenden könne, sagt Prof. Dr. Silke Walter von der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum des Saarlandes.
Statistisch betrachtet, erleidet in Deutschland durchschnittlich alle zwei Minuten ein Mensch einen Schlaganfall. Gemäß der Maßgabe "Zeit ist Hirn" bestehen bei denen, die innerhalb einer Stunde behandelt werden, gute Heilungschancen. Die in Deutschland aktuell 22 Tele-Stroke-Units verbessern insbesondere die Versorgung in ländlichen Regionen, indem sie den langen Weg für den Patienten zur adäquaten Therapie verkürzen.
In speziell für die Schlaganfallbehandlung ausgestattete Rettungswagen oder kleineren Kliniken werden Neurologen größerer Kliniken per Video zugeschaltet, die Diagnostik und Therapie unterstützen. So können Patienten mithilfe der Telemedizin sogar vor Ort oder unterwegs behandelt werden. "Das hat zu deutlich besseren Outcomes geführt", berichtet Walter.
Apps wie Fast-ED (Field Assessment Stroke Triage for Emergency Destination) ermöglichen bereits vor Ankunft in der Klinik eine Triage, etwa, indem die App durch die Eingabe unterschiedlicher Parameter ermittelt, ob ein Verschluss eines großen Gefäßes vorliegt und somit eine Thrombektomie vorgenommen werden muss, bei der das Blutgerinnsel mechanisch entfernt wird.
Für die deutschlandweit rund 800.000 Menschen mit Epilepsie und deren Behandler gibt es bislang nur wenige digitale Werkzeuge, die bei der Diagnosestellung, der Erkennung sowie der Vorhersage von Anfällen helfen, sagt Johann Philipp Zöllner vom Epilepsiezentrum am Universitätsklinikum Frankfurt. Seit Inkrafttreten des Digitalen Versorgungsgesetzes im Oktober 2020 werden "Apps auf Rezept", sogenannte "Digitale Gesundheitsanwendungen" (DiGA) von den Krankenkassen übernommen.
Unter den aktuell 24 DiGA befindet sich noch keine Epilepsie-App. Solche spezifischen Apps haben „ein hohes Potenzial“, sagt Zöllner. Das zeigten ähnlich spezielle Apps, zum Beispiel für Patienten mit Multipler Sklerose. Laut "eHealth Monitor 2020" befürworten 59% der Patienten "Apps auf Rezept" und genauso viele wünschen sich hierzu eine Beratung in der Arztpraxis. Zur Anfallserkennung nutzen Betroffene bereits Wearables mit externen Sensoren, etwa Epilepsie-Armbänder, die Anfälle erkennen und einen Alarmanruf sowie die GPS-Koordinaten an das Handy einer Bezugsperson weiterleiten.
Die Digitalisierung verbessert auch die Erforschung neurologischer Erkrankungen, was wiederum der Therapie zu Gute kommt, etwa bei Multipler Sklerose (MS). MS, bei der Hirn und Rückenmark betroffen sind, wird auch als "Krankheit der tausend Gesichter" bezeichnet. Durch das Messen komplexer neurologischer Funktionen und das Sammeln und Gruppieren großer Datenmengen mittels digitaler Tools, können unterschiedliche MS-Subgruppen identifiziert und dadurch gezielter behandelt werden, erklärt Dr. Tjalf Ziemssen, Gründer und Leiter des MS-Zentrums an der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Dresden.
Dort werden digitale Daten, etwa zum Erkrankungsverlauf oder zu Funktionen, die mit Fortschreiten der MS eingeschränkt sind (z.B. Gangstörungen), nicht nur Ärzten, sondern auch Patienten zur Verfügung gestellt, übersichtlich dargestellt und erklärt. "Die Patienten sind begeistert, ihre eigene Gang-Analyse zu sehen und zu wissen: die Erhebungen kommen mir zu Gute."
Quelle:
94. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie; 3.-6. November 2021: Junge Neurologen präsentieren: Digitalisierung der neurologischen Versorgungslandschaft: above and beyond telemedicine. 4.11.21