esanum: Herr Dr. Becker, Sie sind Sprecher der AG JUNGE DGIM und werden beim bevorstehenden Internistenkongress über die Erwartungen der nächsten Ärztegeneration an ein modernes Gesundheitswesen sprechen. Wird Ihr Fokus dabei auf Digitalisierung und den Einsatz von KI liegen?
Dr. Becker: Digitalisierung ist ein zentrales Thema, aber es umfasst weit mehr als nur KI. Es geht auch um die elektronische Gesundheitsakte, Telemedizin, digitale Gesundheits-Apps und den Bereich Forschung sowie die wissenschaftliche Nutzbarkeit von Daten. Diese Aspekte sind entscheidend für die Zukunft unseres Gesundheitssystems. Aber die Erwartungen und Ansprüche an ein modernes, zukunftsfähiges Gesundheitssystem umfassen mehr als den Aspekt der Digitalisierung. Es geht um die Steuerung von Patientenströmen, die effizientere Nutzung von Ressourcen und die Entbürokratisierung – hierbei bietet die Digitalisierung viele Möglichkeiten.
esanum: Könnten Sie das etwas genauer erläutern? Was verstehen Sie unter Patientensteuerung und welche Rolle spielt die Digitalisierung dabei?
Dr. Becker: Digitalisierung eröffnet zahlreiche Möglichkeiten zur Steuerung von Patientenströmen. Durch digitale Gesundheitsanwendungen und Telemedizin ist es Patientinnen und Ärztinnen besser möglich zu selektieren, welcher Patient oder welche Patientin eine Vorstellung in der Notaufnahme, beim Facharzt, beim Hausarzt oder gar keine persönlichen Arztkontakt benötigt. Auch ChatBots mit künstlicher Intelligenz werden hier zukünftig eine große Rolle spielen, da Patientinnen besser über ihre Erkrankungen informiert sein werden.
In aktuellen gesundheitspolitischen Diskussionen, wie etwa den Sondierungsgesprächen der Bundesregierung, wird fernab von digitalen Prozessen überlegt, Patientenströme durch Maßnahmen wie differenzierte Kosten für direkte Facharztbesuche zu beeinflussen.
esanum: Das bedeutet, dass der Patient aktiv an der Digitalisierung teilnehmen muss. Wie sehen Sie das?
Dr. Becker: Absolut. Der Patient steht im Mittelpunkt. Digitalisierung ist keine Innovation um ihrer selbst willen, sondern soll die Patientenversorgung verbessern. Patienten generieren viele Gesundheitsdaten, etwa durch elektronische Patientenakten oder Apps, und müssen in die Lage versetzt werden, Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen – auch durch den Einsatz von KI.
esanum: In der Praxis klingt das nach einer Herausforderung. Es benötigt sicher eine umfassende Aufklärung der Patienten, oder?
Dr. Becker: Richtig. Aufklärung über die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen von digitalen Technologien im Gesundheitswesen ist zwingend erforderlich. Um dies tun zu können, müssen auch wir Mediziner uns fortbilden. Das muss bereits im Medizinstudium und in der Weiterbildung verankert werden, aber auch durch die Fachgesellschaft immer weiter vorangetrieben werden. Die DGIM um die Arbeitsgruppe von Herrn Prof. Möckel beispielsweise hat Kriterien zur Erstellung von Lernvideos für digitale Gesundheitsanwendungen entworfen.
esanum: Die jüngere Generation von Medizinern hat natürlich Vorteile, was den Umgang mit digitaler Technologie betrifft. Wie sehen Sie das?
Dr. Becker: Jüngere Mediziner sind sicher mit digitalen Technologien vertrauter, aber das allein reicht nicht aus. Es erfordert unabhängig von der Generation aktives Engagement, um mit der Entwicklung Schritt zu halten und unsere Patientinnen bestmöglich zu betreuen und zu behandeln. Darüber hinaus besteht ansonsten auch die Gefahr, dass wir im internationalen Vergleich nicht mithalten können, besonders in Bereichen wie KI.
esanum: Wie erleben junge Ärzte und Ärztinnen derzeit ihren Alltag? Welche Herausforderungen stehen im Fokus?
Dr. Becker: Das variiert individuell, ist aber oft von der Arbeitsstätte und dem Arbeitsumfeld geprägt. Viele klagen über umfangreiche Bürokratie und fordern mehr Fokus auf Weiterbildung. Auch die viel diskutierte Work-Life-Balance ist ein Thema. Die meisten jungen Ärztinnen und Ärzte sind nach ihrem Studium hochmotiviert und wollen gern und viel arbeiten. Aber dennoch sind sie auch häufig bereit, auf ein höheres Gehalt zugunsten geringerer Arbeitszeit zu verzichten, um mehr Lebensqualität zu gewinnen.
esanum: Apropos Work-Life-Balance – wie sehen Sie den Wunsch nach einem ausgewogeneren Verhältnis von Arbeit und Freizeit?
Dr. Becker: Der Wunsch nach Work-Life-Balance ist legitim. Es handelt sich dabei nicht um mangelnde Arbeitsbereitschaft, sondern um ein vernünftiges Bedürfnis nach Ausgleich. Junge Ärzte sind bereit und motiviert zu arbeiten, doch die Bedingungen müssen stimmen.
esanum: Warum verlassen so viele junge Ärzte das System oder gar das Land?
Dr. Becker: Viele verlassen Deutschland, weil sie denken, dass Ausbildung, Arbeitsbedingungen und Entlohnung woanders besser sind. Das Gesundheitssystem muss attraktiver werden, um Ärzte zu halten. Themen wie flexible Arbeitszeiten und bessere Weiterbildungsmöglichkeiten sind hier entscheidend.
esanum: Lassen Sie uns über Ihre persönliche Zukunft sprechen. Was sind Ihre beruflichen Ziele?
Dr. Becker: Ich arbeite derzeit als Oberarzt in der Kardiologie und bin damit sehr zufrieden. Die Kardiologie ist ein spannendes und facettenreiches Fach und universitäre Medizin auf höchstem Niveau ist jeden Tag aufs neue spannend. Der ambulante Sektor interessiert mich auch, da er andere patientenorientierte Aspekte bietet. Momentan fühle ich mich jedoch an meiner Klinikstelle wohl, bleibe aber offen für zukünftige Entwicklungen.
esanum: Eine letzte Frage: Was halten Sie von der Idee einer "Wohlfühlkarriere"?
Dr. Becker: Der Begriff ist sicherlich negativ besetzt und die Frage ist, was man darunter versteht. Ich denke, eine Karriere sollte berufliche Erfüllung als auch persönliche Zufriedenheit bieten. Das bedeutet nicht, weniger zu arbeiten, sondern in einem Umfeld tätig zu sein, das einen ausbalancierten Lebensstil ermöglicht. Dabei ist es wichtig, flexible und angepasste Arbeitsmodelle weiter zu entwickeln und umzusetzen. Ich persönlich denke, dass der Aspekt der aktiven Mitarbeiterführung im Vergleich zu anderen Branchen im Gesundheitssystem viel zu kurz kommt und auch das zu einem attraktiven, modernen Gesundheitssystem dazugehören sollte, damit Karrieren bestmöglich und individuell gestaltet werden können.
Dr. Christian Becker, MHBA, ist Oberarzt an der Universitätsmedizin Göttingen der Georg-August-Universität. Er ist Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie mit der Zusatzbezeichnung Notfallmedizin und ist als Hypertensiologe (DHL) qualifiziert. Zudem fungiert er als Sprecher der Arbeitsgruppe Junge DGIM (Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin).