Je früher Krankheiten entdeckt werden, desto höher ist die Chance auf Heilung. Im Prinzip unstrittig, doch der Nutzen von Früherkennungsuntersuchungen stößt an seine Grenzen, wenn Daten kritisch hinterfragt und Probleme der Überdiagnostik in Betracht gezogen werden.
Für eine rationale Risikobewertung steht Prof. Dr. Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding-Instituts für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut. Sein 2013 gemeinsam mit Prof. Sir J. A. Muir Gray, Großbritannien, herausgegebenes Buch Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin zielt auf eine effizientere Gesundheitsversorgung durch Ärzte und Patienten, die medizinische Daten und Forschungsergebnisse verstehen, statt sich durch Teilinformationen irreführen zu lassen.
Der Ansatz ist nicht neu, bereits vor 30 Jahren erschien das Buch Torheiten und Trugschlüsse in der Medizin in der englischen Erstausgabe von Petr Skrabanek und James McCormick. Eins der gängigen Probleme sei es, die Aussagekraft von absoluten und relativen Risiken richtig bewerten zu können. Für sich allein genommen sagt das relative Risiko, z.B. eine Risikoreduktion um 20 Prozent in der Interventionsgruppe gegenüber der Kontrollgruppe, wenig aus. Es fehlt die Bezugsgröße.
Wie vielen Patienten kann durch die Intervention tatsächlich geholfen werden? Und wie viele Patienten erzielen ohne Intervention das gleiche Ergebnis?
Dass die absoluten Zahlen zu einer anderen Bewertung führen können, als es das relative Risiko vermuten lässt, zeigen die oft zitierten Daten zum Mammographie-Screening. Demnach sterben 4 von 1.000 Frauen mit Screening und 5 von 1.000 Frauen ohne Screening an Mammakarzinom. Die relative Risikoreduktion durch das Screening liegt folglich bei 20 Prozent. Aufgrund der geringen Mortalität beträgt die absolute Risikoreduktion jedoch nur 0,1 Prozentpunkte, d.h., unter 1.000 Frauen zieht eine Frau einen positiven Nutzen aus dem Screening.
Dem ist das Risiko eines falsch positiven Testergebnisses mit den damit verbundenen psychischen und körperlichen Belastungen entgegenzuhalten. Die Entscheidungshilfe des G-BA legt zugrunde, dass etwa 30 von 1.000 Frauen einen auffälligen Befund erhalten, der weitere Untersuchungen nach sich zieht. Bei 6 Frauen bestätigt sich der Verdacht. Von diesen haben 5 einen invasiven Tumor. Einmal liegt ein Duktales Carcinoma in Situs vor, dessen weiterer Verlauf noch nicht absehbar ist. Nicht zu vergessen, trotz Screening besteht das Risiko fort, so erkranken 2 der verbliebenen 994 Frauen in den zwei Jahren vor dem nächsten Termin.
Ebenso wirft der PSA-Test zur Früherkennung eines Prostatakarzinoms Fragen auf. Der IGeL-Monitor bewertet den Test "tendenziell negativ". Die leitliniengestützte Patienteninformation enthält sich und verweist auf widersprüchliche Studienergebnisse: In der prospektiven PLCO-Studie, an der 76.000 Männern teilnahmen, verstarben nach 13 Jahren weniger als 0,5 Prozent der Männer an Prostatakrebs, gleich ob mit oder ohne PSA-Test, gut 15 Prozent verstarben an anderen Ursachen. Demgegenüber konnte in der ERSPC-Studie nach 13 Jahren eine etwas geringere Sterblichkeit in der PSA-Test-Gruppe zeigen. Mit Test waren 5 von 1.000 Männern an Prostatakrebs verstorben, ohne 6. An anderen Ursachen verstarb jeder fünfte Studienteilnehmer. Es beteiligten sich 162.000 Männer.
Als relative Größe ausgedrückt, beträgt die Mortalitätsreduktion durch einen PSA-Test demnach knapp 17 Prozent. Die absolute Reduktion liegt bei 0,12 Prozentpunkten bzw. 12 von 10.000 Männern.
Je nachdem, wie die Daten aufbereitet und kommuniziert werden, lässt sich "Politik" machen. Nach Gigerenzer & Co. führen relative Risiko-Angaben häufig dazu, dass die Effekte einer Intervention überschätzt werden. Dies macht sich das Marketing eigen: Wenn der Nutzen eines Testverfahrens oder Medikaments im Vordergrund stehen soll, um einen möglichst hohen Verbreitungsgrad zu erreichen, wird bevorzugt die relative Risikoreduktion kommuniziert, während die damit verbundenen Risiken und Nebenwirkungen in absoluten Zahlen erscheinen.