In einer der letzten Ausgaben des New England Journal of Medicine (NEJM) findet sich eine Eloge des Chefredakteurs Jeffrey M. Drazen, die sich dem Sterben seines Bruders Paul und den Fortschritten der Medizin widmet.1 Drazen selbst spricht von einer allzu vertrauten Geschichte. Aus scheinbar vollkommener Gesundheit heraus entwickelte sein 64-jähriger Bruder, ein Rabbi, Unterbauchschmerzen. Die eingeleitete Diagnostik ergibt ein metastasiertes Kolonkarzinom mit Absiedlungen in Bauchfell, Leber und Lungen. Knapp drei Jahre später ist Drazens Bruder tot. Aufgrund erstklassiger, teilweise sogar noch experimenteller Behandlung konnte der Rabbi etwa zwei Jahre seiner verbliebenen Lebenszeit weitgehend unbeeinträchtigt von der Erkrankung verbringen.
Jeffrey Drazen feiert diese Überlebenszeit vollkommen zu Recht als eine große Errungenschaft der modernen Medizin und speziell der Onkologie. Noch vor zwei Jahrzehnten wäre Pauls Diagnose unfehlbar auf wenige, vermutlich qualvolle Lebensmonate hinausgelaufen.
Drazen dankt im eigenen Namen und dem seines Bruders den Ärzten, Wissenschaftlern und – ja – den mutigen Patienten, die diese Entwicklung erst ermöglicht hätten. Im Falle der Patienten unter Inkaufnahme von Risiken für ihr Leben und ihre Gesundheit, denen sie sich aussetzten, indem sie an Studien mit unerprobten Medikamenten teilnahmen. Um sich selbst zu helfen, natürlich, aber eben auch um Menschen wie Paul ein besseres Ende ihres Daseins zu ermöglichen. Ein besseres Ende, als es ihnen selbst beschieden gewesen sein mag.
Mir hat diese Passage am Ende des kurzen Textes sehr gefallen. Allzu oft gerät der Dank an die Menschen, die an wissenschaftlichen Studien teilnehmen sehr formelhaft. Das ist für meinen Geschmack ungerecht. Denn letztlich sind die Patienten die Quelle und zugleich der Maßstab der modernen Medizin. Hier würdigt der Chefredakteur einer der weltweit angesehensten Fachpublikation den Mut dieser Menschen und ihren Beitrag zum medizinischen Fortschritt.
Wer hier zurückhaltend eine unzulässige Vermischung von Motiven und persönlichem Nutzen der Patient anmahnt, den möchte ich daran erinnern, dass auch die wissenschaftliche Forschungsarbeit nicht immer frei von persönlichen Ambitionen erfolgt. Und, dass diese auch nicht immer nur in einem überindividuell hehren Verhältnis zur Behebung menschlicher Gebrechen steht.
Mir jedenfalls gefällt, was Drazen zu den Patienten schreibt.
Drazens Text ist eine Eloge auf seinen offensichtlich nicht nur menschlich klugen Bruder. Sie ist ein Nachruf, der die Weisheit von Rabbi Paul feiert und sie mit uns teilen möchte. Denn der dreijährige Prozess des Aus-der-Welt-Scheidens sei von seinem Bruder gut und zum Guten genutzt worden, schreibt Drazen.
Das zeige sich unter anderem in drei Lebensregeln, die Paul der Nachwelt hinterlassen habe:
Vermutlich hätte Paul auch ohne sein Karzinom Bedenkenswertes über das Leben und das Sterben sagen können. Erst recht, zumal Drazens Bruder ein Rabbi war, ein Gemeindevorstand, der mit allen Facetten des Lebens von der Geburt bis zum Tod in Berührung stand.
Und doch stieß mir etwas an diesen Empfehlungen auf. Zuerst dachte ich, es hätte einfach mit dem Setting der Eloge zu tun: Ein hochgebildeter, angesehener Arzt hat einen ebenfalls intelligenten und einfühlsamen Bruder, der beachtenswerte Gedanken für andere intelligente Menschen seiner sozialen Schicht formuliert hat. Man kennt ja solche Bücher, die einen Brückenschlag zur Akzeptanz des Todes versuchen. Oft vor dem Hintergrund breiter und alter Bildung. Geschrieben für ein Publikum, das in Selbstreflexion geübt ist. Fast jedes Psychosomatik-Lehrbuch enthält solche Texte – und vermutlich fast jeder gute religiöse Leitfaden ebenso.
Aber das war es nicht, was mich an Drazens Text irritierte. Und auch nicht, die damit eng verknüpfte sozioökonomische Zielgruppe solcher Publikationen. Denn das war ein weiterer Gedanke, der mir durch den Kopf schoss: Was, wenn der Rabbi der Bewohner eines US-amerikanischen Trailer Parks gewesen wäre? Ohne Familienanbindung und eigenes Vermögen, das ihm erlaubte, die zwei gewonnenen Jahre tatsächlich genießen zu können. Was, wenn er die zwei Jahre nur durch einsame Nachtdienste als Hausmeister irgendwelcher Industrieanlagen oder durch Prostitution hätte finanzieren und überleben können – um einmal plastisch-drastisch zu werden?
Doch auch das begründete nicht mein Unbehagen. Denn der Rabbi war nun einmal der Rabbi gewesen. Hochgebildet und mit intakter Familienstruktur (soweit man sich hier von außen ein Urteil überhaupt erlauben sollte).
Drazens Text wirkte in mir nach. Er ging in mir um, wie ein Schriftsteller vielleicht schreiben würde. Und so stand ich in Gedanken auf einmal vor dem "Schlipsohr".
Das "Schlipsohr" war der erste Patient, der verstarb, während ich – im allerweitesten Sinne – für ihn verantwortlich war. Er war ein dünner, verwirrter älterer Herr, der mir während meiner ersten Famulatur begegnete. (Ich lege übrigens großen Wert auf die Feststellung, dass der Name "Schlipsohr" nicht despektierlich oder abwertend zu verstehen ist, sondern im Sinne eines Kosenamens. Er bezeichnet einen Menschen, der sich mir tief eingeprägt hat und dem ich wichtige Einsichten in das ärztliche Handeln verdanke.)
Ich hatte damals gerademal ein halbes Jahr klinische Ausbildung hinter mir – und insbesondere von der Kardiologie, die medizinisch das Geschehen auf der Station bestimmte, noch herzlich wenig Ahnung. Während der Visite an einem meiner ersten Tage hatten der Stationsarzt, sein AiP-ler und ich als Famulant in entspannter Vergnügtheit auch mit Herrn "Schlipsohr" zu tun. Er war ein sehr freundlicher und immer bemühter Patient, so viel war selbst zu mir durchgedrungen. Allerdings war Herr "Schlipsohr" auch dement und schwerhörig. So kam es denn auch zu dem Missverständnis, dem Herr "Schlipsohr" seinen hier von mir gebrauchten Namen verdankt.
Der Arzt hatte scherzhaft in irgendeinem freundlichen Sinn das Wort "Schlitzohr" gegenüber dem Patienten gebraucht. Vermutlich aufgrund einer Hör- oder Verständnishürde war der Begriff jedoch auf ein inadäquates Pferd gestolpert und galoppierte nun fernab der Wege durch die Wortwelten von Herrn "Schlipsohr".
Das Wort versetzte den Patienten in Aufruhr, weil es ihm auch nach mehrfacher Wiederholung unverständlich blieb. Jedenfalls bis ihn wie ein Schlag die Erkenntnis durchdrang: "Ach so, ein Schlipsohr!"
Nun hatte er es seiner Meinung nach begriffen: Ein Schlipsohr! Er nickte voller Verständnis. Das hätten wir doch gleich sagen können. – Wir freuten uns mit und für ihn.
Danach setzten wir die Visite fort. Die Frage nach einem suffizienten Hörgerät wurde nicht diskutiert. Ich weiß nicht mehr warum, aber ich befürchte, es lag daran, dass niemandem von uns ein solcher Gedanke naheliegend erschienen ist.
Später am gleichen Tag bekam ich mit, dass der Patient wegen wiederholter Bettflucht fixiert wurde. Auch bilde ich mir ein, seine darüber verwirrten Blicke noch vor Augen zu haben.
Am nächsten Morgen jedenfalls war Herr "Schlipsohr" tot. Er war in der Nacht verstorben und bereits nicht mehr auf der Station.
Vielleicht fragen Sie sich jetzt, genau wie ich es anfangs tat, was diese Geschichte mit dem Bruder von Jeffrey Drazen zu tun hat. Ich habe selbst ein wenig gebraucht, das zu verstehen.
Der Unterschied zwischen dem Rabbi Paul und dem "Schlipsohr" ist in Wahrheit, das ging mir irgendwann auf, nur ein wenig Zufall. So leicht ließen sich die Krankengeschichten austauschen. Schon hätten wir einen dementen Rabbi und ein "Schlipsohr", das vor seinem Tod noch zwei gute Jahre mit einem Kolonkarzinom verbringt.
Aber: Wo wäre dann die Weisheit, die Paul nach Jeffrey Drazens Schilderung entwickelt und ausgebildet hat? Und welche Weisheit wäre es in diesem Fall überhaupt gewesen? Und was würde sie Jeffrey Drazen bedeuten? Was mir?
Das sind Fragen, die nicht allgemein zu beantworten sind.
Jeffrey Drazen trauert um seinen hochgeschätzten Bruder. Er erkennt Sinn und Zweck in den Jahren, die ihm mit seinem erkrankten Bruder verblieben. Dieser Sinn scheint ihm – mit und neben der Zeugenschaft für die Fortschritte der modernen Krebstherapie – das Vermächtnis seines Bruders zu sein, sein Fortbestehen über den Tod hinaus. – Das ist zu respektieren und anzuerkennen.
Doch auch gewöhnliche Menschen sterben.
Mein Unbehagen mit Drazens Schilderung rührte von dem so ganz anderen Sterben des "Schlipsohrs" her. In dem es keinen Sinn gab, keine Weisheit, keine Vollendung. Der alte, verwirrte Mann, dessen Namen ich längst vergessen habe, "lebt" dennoch fort. Wie der Rabbi Paul im Aufsatz seines Bruders.
Ich staune über Herrn "Schlipsohr" – und möchte mich hier bei ihm bedanken. Denn das hat er verdient.
Quellen:
1. Drazen JM. Life Lessons from Paul in the Face of Death. N Engl J Med. 2018; 379: 808-809. https://www.nejm.org/doi/pdf/10.1056/NEJMp180869