Daten zahlreicher empirischer Studien legen nahe, dass die Preise onkologischer Medikamente unverhältnismäßig hoch sind und die Preispolitik unhaltbar ist, da sie Patienten und Gesellschaften weltweit zum Nachteil gereicht.
Weltweit werden jährlich über 100 Mrd. Dollar für medikamentöse Krebstherapien ausgegeben. Bis 2020 könnte diese Zahl auf 150 Mrd. ansteigen. Nicht nur sind die Preise bei Markteinführung hoch und weiter steigend, während der anschließenden Exklusivitätsphase werden diese oft nochmals drastisch angehoben – laut großer Analysen um bis zu 44 %.1 Während die mittleren Haushaltseinkommen im Vergleich eher stagnieren, sind die Preise neuer Wirkstoffe exponentiell gestiegen: regelhaft kosten diese inzwischen mehr als 100.000 Dollar pro Behandlungsjahr. Ein spannendes Review1 in der Zeitschrift Nature fasste die vorhandenen Fakten über die Preise von Krebstherapien, die Gründe und Folgen dieser hohen Preise sowie bedenkenswerte Lösungsansätze zusammen.
Onkologische Medikamente sind für die größten Ausgaben aller Fachrichtungen verantwortlich. Dabei unterscheiden sich die Preise ab Werk im Vergleich zwischen 16 europäischen Ländern sowie Australien und Neuseeland erheblich (28‑388 %).2 Knapp die Hälfte der eingangs genannten 100 Mrd. Dollar entfallen auf den amerikanischen Markt (46 %), wo die Medikamente am teuersten sind, obwohl das Einkommensniveau dem etlicher europäischer Länder vergleichbar ist.
Die Preistrends haben eine rasante Entwicklung genommen: noch vor 20 Jahren wurde Paclitaxel das erste Medikament mit über 1 Mrd. Dollar Umsatz im Jahr. Bereits 2013 erzielten die 10 umsatzstärksten onkologischen Medikamente je 1,8-7,8 Mrd. Dollar jährlich. Neue Immuntherapien, wie der PD-1-Antikörper Pembrolizumab, können inzwischen pro Behandlungsjahr und Patient (bei einer Dosis von 10 mg/KG) über 1 Mio. Dollar kosten.
Je nach Land und Gesundheitssystem wird die Belastung durch die steigenden Preistrends unterschiedlich verteilt. Hohe Medikamentenpreise schaden Patienten – in vielen Systemen durch erhöhte Zuzahlungen, die die Compliance verringern und zu ungünstigen Ergebnissen führen – und der Gesellschaft – indem sie ihr kumulative finanzielle Belastungen aufbürden, die nicht tragbar sind.
Die Kosten neuer medikamentöser Therapien sind rational nicht ausreichend zu begründen – etwa über die Ausgaben für Forschung und Entwicklung, den zu erwartenden Nutzen für die Patienten oder die Innovativität der Wirkstoffe.
Laut einer hochrangig publizierten Analyse fließen in die Neuentwicklung eines Wirkstoffes bis zur Zulassung im Schnitt 2,6 Mrd. Dollar.3 Diese Zahl wurde allerdings wegen mangelnder Transparenz kritisiert, da die Namen der untersuchten Wirkstoffe und die von den unbenannten Pharmakonzernen dafür selbst erstellten Rohdaten keiner Prüfung zugänglich gemacht wurden. Des Weiteren gibt es andere Schätzungen, die um Größenordnungen kleiner ausfallen. So kam eine andere Berechnung, die ebenfalls die hohen Kosten fehlgeschlagener Forschungsprojekte auf dem Weg zu einem neuen Wirkstoff berücksichtigt, auf 160 Mio. Dollar.4 Überdies wird Forschung für neue Medikament zu wenigstens 10-40 % staatlich finanziert.
Wie empirische Daten zeigen, übersteigen die Investitionen der biopharmazeutischen Industrie in Marketing jene in Forschung und Entwicklung – nach Aufrechnung von Ausgaben und Einnahmen verbleiben jedoch immer noch zweistellige Gewinnmargen und die Reingewinne sind allgemein hoch.1
Wie viel es kostet, ein neues Produkt auf den Markt zu bringen, bestimmt aber auch in anderen Businesssektoren nicht alleinig den Produktpreis, sondern vielmehr die Tatsache, wie viel eine Person für den mit dem Produkt verbundenen Wert auszugeben bereit ist und ob Alternativen zur Verfügung stehen. Ebenfalls eine Rolle spielen könnten Profiterwartungen von Aktionären und die Preisgestaltung durch Arzneimittel-Einkaufsorganisationen, Großhändler und Apotheken – welchen ihrerseits bspw. mit Gewinnbeteiligungen und Ermäßigungen Anreize geschaffen werden.1
Natürlich lässt sich nicht über die Kosten diskutieren, ohne den Nutzen der Medikamente in Betracht zu ziehen, der leider oft gering ausfällt. Eine im Journal of the American Medical Association publizierte Analyse 71 fortlaufender Wirkstoffe, die zwischen 2002 und 2012 für Patienten mit soliden Tumoren zugelassen wurden, ergab eine mediane Verbesserung des Gesamtüberlebens (OS) um 2,1 Monate und des progressionsfreien Überlebens (PFS) um 2,3 Monate.5
In einer späteren Auswertung 47 onkologischer Medikamente, die zwischen 2014 und 2016 die FDA-Zulassung erhielten, erfüllten nur 9 (19 %) den von der ASCO vorgegebenen moderaten Standard von "bedeutsamem klinischen Benefit" in Bezug auf das OS.6 Auch die von der ESMO vorgeschlagene Grenze für einen relevanten Nutzen erbrachten in einer Untersuchung 226 randomisierter Studien nur 70 (31 %).7
Da diese Zahlen aus Zulassungsstudien mit sorgfältig ausgewählten Patienten stammen, steht zu befürchten, dass der Nutzen im tatsächlichen klinischen Setting, wo Patienten mit höherem Alter oder mehr Komorbiditäten vorkommen, geringer ausfallen würde.
Mit Ausnahme weniger Wirkstoffe zeigen Effektivitätsanalysen ein Übergewicht in Richtung der Kosten. So kostet beispielsweise Regorafenib für die Therapie des metastasierten kolorektalen Karzinoms 900.000 Dollar pro qualitätskorrigiertem Lebensjahr (quality-adjusted life year = QALY), Bevacizumab über 500.000 Dollar, Necitumumab für das Plattenepithelkarzinom der Lunge über 800.000 Dollar pro QALY oder Pertuzumab für Patienten mit metastasiertem Mammakarzinom 710.000 Dollar pro QALY. Analysen mit hoffnungsvolleren Zahlen existieren zwar, weisen jedoch oft Interessenkonflikte oder methodische Mängel auf.1
Preiserhöhungen und steigende Inzidenzen werden von 2011 bis 2025 zu einem Anstieg der Behandlungsausgaben bspw. allein für die CLL um 590 % führen.8 Kein Gesundheitssystem der Welt ist unter diesen Bedingungen imstande, den Patienten alle neuen Medikamente zugänglich zu machen.
Der oft mäßige Nutzen FDA-zugelassener Medikamente und die limitierten Fortschritte gegen häufige Neoplasien zeigen, dass teure Therapien die Entwicklung behindern und die Effektivitätsstandards senken, indem sie zu enormen Aufwendungen von Zeit, Geld und Ressourcen für marginale therapeutische Indikationen führen. Echte Innovation gerät dabei durch eine "me-too"-Mentalität in den Hintergrund, was sich in der Dopplung von Bestrebungen oder in redundanten pharmazeutischen Pipelines äußert.5
Wenn neue Therapien auch in Zukunft möglichst vielen Menschen zur Verfügung stehen sollen, müssen dringend Lösungen gefunden werden. Aktuell diskutierte Ansätze verfolgen gesetzliche Änderungen dessen, wie Preise verhandelt werden, mehr Transparenz, Einführung von Generika und bioidentischen Wirkstoffen, Verkürzung der Patentlaufzeit oder Änderung von Importbestimmungen.
Referenzen:
1. Prasad V et al. The high price of anticancer drugs: origins, implications, barriers, solutions. Nat Rev Clin Oncol. 2017;14(6):381-390
2. Vogler S et al. Cancer drugs in 16 European countries, Australia, and New Zealand: a cross-country price comparison study. Lancet Oncol. 2016;17(1):39-47
3. Avorn J. The $2.6 billion pill — methodologic and policy considerations. N Engl J Med. 2015;372:1877–1879
4. Public Citizen. Rx R&D myths: the case against the drug industry’s R&D “scare card”. Citizen http://www.citizen.org/documents/ACFDC.PDF (2001).
5. Fojo T et al. Unintended consequences of expensive cancer therapeutics — the pursuit of marginal indications and a me‑too mentality that stifles innovation and creativity: the John Conley Lecture. JAMA Otolaryngol. Head Neck Surg. 2014;140(12):1225-36
6. Kumar H et al. An appraisal of clinically meaningful outcomes guidelines for oncology clinical trials. JAMA Oncol. 2016;2:1238–1240.
7. Del Paggio J C et al. Do contemporary randomized controlled trials meet ESMO thresholds for meaningful clinical benefit? Ann Oncol. 2017;28:157–162
8. Chen Q et al. Economic burden of chronic lymphocytic leukemia in the era of oral targeted therapies in the United States. J Clin Oncol. 2017;35:166–174