In weit fortgeschrittenen Stadien unheilbarer Krankheiten gehen neu auftretende Symptome gern im Gesamtbild unter. Dass dadurch völlig unabhängige, behandelbare Erkrankungen oft nicht (rechtzeitig) therapiert werden, zeigt die Geschichte eines MS‑Patienten.
Die Autorin eines kürzlich im New England Journal of Medicine erschienen Fallberichtes eines Patienten mit Multipler Sklerose (MS)1, Dr. Lisa I. Iezzoni, Professorin an der Harvard Medical School, saß selbst wegen einer MS bereits im Rollstuhl, als sie 1988 dem 55‑jährigen Michael zum ersten Mal begegnete. Er litt seit 13 Jahren an einer primär progredienten MS, bediente mit seiner rechten Hand den Joystick seines Rollstuhls, während sein linker spastischer Arm eng an seiner Brust anlag. Er konnte seine Beine und Füße nicht bewegen, sein Kopf war wegen eines Torticollis nachts rechts eingedreht, doch sein Geist war scharf und klar (ein in Oxford studierter Physiker) und obwohl er gezwungenermaßen mit 50 in Rente gegangen war, führte er ein reichhaltiges Leben, auditierte Lehrveranstaltungen an der Universität, besuchte Konzerte und Museen.
Sie befreundeten sich und Dr. Iezzoni wurde Michaels Vorsorgebevollmächtigte. Nach etlichen Jahren schritt seine MS weiter voran und er konnte seinen Joystick nicht mehr per Hand bedienen. Er bekam einen Rollstuhl mit einem Minijoystick zur Kinnsteuerung, mit dem er auch seinen Tablet-Computer bediente. Er wurde in eine eng organisierte Patientenversorgung integriert, die alle Leistungen einschloss, darunter häusliche Pflege und 70 Wochenstunden persönliche Unterstützung, die er benötigte, um alleine in seinem bescheidenen, aber komplett adaptierten Zuhause zu leben.
Doch 2014 begann Michael, Bullae an Armen und Beinen zu entwickeln. Ein Dermatologe stellte die Diagnose eines bullösen Pemphigoids und verschrieb topische Steroide, ohne weitere Abklärung. Vier Monate später beklagte der Patient weitere neue Symptome: Appetitverlust, frühes Sättigungsgefühl, Übelkeit, gelegentliches Erbrechen, ein zunehmend aufgetriebenes unteres Abdomen und Änderung der Stuhlgewohnheiten. Zuvor hatte er an der typischen MS‑assoziierten Obstipation gelitten, doch nun traten häufige Stuhlgänge und mehrere tagelange Episoden rektaler Inkontinenz mit erheblichen Mengen von Schleim auf. Wiederholt bat Michael seine Patientenversorgung, einen Termin beim Gastroenterologen zu organisieren, doch sein Krankenpfleger sagte, es sei keiner verfügbar. Wenig später entwickelte der zuvor normotensive Patient Blutdrücke von 160/100 mm Hg, die nicht auf Betablocker ansprachen.
Mitte 2015 besuchte die Autorin den inzwischen erschöpft und dünn aussehenden Michael. Er konnte nur wenige Worte sprechen, bevor er zum Luftholen unterbrechen musste. Sie war besorgt und wollte eingreifen, aber respektierte Michaels Wunsch, seine Gesundheitsversorgung selbst in der Hand zu behalten. Sein Hausarzt machte einen Hausbesuch, aber untersuchte ihn nicht, da er ihn "nicht aus seinem Rollstuhl bekäme".
Zwei Wochen später, an Michaels 61. Geburtstag, besuchte Dr. Iezzoni ihn erneut. Er wirkte ausgezehrt und mitgenommen und schnappte ständig nach Luft. Sein unteres Abdomen war fest, massiv aufgetrieben und beide Beine schwer ödematös, sein Blutdruck weiterhin 160/100 mm Hg und die Häufigkeit der Bildung von Bullae hatte zugenommen. Er aß wenig und das Wenige erbrach er. Nun erhielt sie sein Einverständnis, aktiv zu werden. Sie drängte auf die Durchführung einer CT, die eine abdominelle Raumforderung ergab und bestand auf der Einweisung in ein Haus der Maximalversorgung außerhalb des Netzwerkes seiner Patientenversorgung.
Unter Verdacht auf ein retroperitoneales Sarkom wurde eine lange OP angesetzt. Doch zuvor musste wegen bilateraler Thrombosen der Vv. femorales ein Cavafilter platziert werden. Die exzidierte, 7kg schwere Raumforderung stellte sich zum Glück nicht als Sarkom heraus, sondern als gastrointestinaler Stromatumor (GIST). Innerhalb weniger Tage normalisierten sich Blutdruck und Atemfrequenz und die Beinödeme waren rückläufig. In den folgenden Wochen verschwanden auch die Bullae. Michael vertrug Imatinib (tägliche orale Therapie für GIST), welches er wahrscheinlich auf unbestimmte Zeit brauchen wird. Bei dieser Tumorgröße besteht ein hohes Rezidivrisiko.
Als Michael nach 2 Wochen wieder nach Hause entlassen war und ihn diverse Mitglieder seines früheren Patientenversorgungsteams besuchten, die sich ernüchtert von der Entdeckung seiner Neoplasie zeigten, versuchte Dr. Iezzoni zu verstehen, warum in den 9 Monaten zuvor niemand auf Michaels Hilferufe oder die "red flags" reagiert hatte.
Ein bullöses Pemphigoid, ein mögliches paraneoplastisches Syndrom, hätte Abklärungen nach sich ziehen müssen. Auch das Versagen, einen gastroenterologischen Termin zu vereinbaren, war ebenso wenig nachvollziehbar wie die Aussage des Hausarztes, er bekäme den Patienten nicht aus dem Rollstuhl. Michaels Rollstuhl richtet sich automatisch in Rückenlage aus und ein bloßes Anheben seines Hemdes hätte das hervortretende Abdomen offenbart. Sein Krankenpfleger schien nachdenklich und gestand ein, auf die tägliche Kontrolle auf Druckschäden fixiert gewesen zu sein. Er habe wenig auf andere Symptome geachtet und dachte, der Patient werde wegen Bewegungsmangels dick.
Doch der wichtigste Hinweis kam vom Sozialarbeiter: das primäre Ziel der Patientenversorgung sei Palliation, es ihren Mitgliedern angenehm zu bereiten. Die Behandler sahen einen ab dem Hals abwärts gelähmten Patienten. Als er neue Probleme entwickelte, erlagen sie möglicherweise der "diagnostischen Überschattung" – der irrtümlichen Zuschreibung aller neuen Symptome zu einer zugrundeliegenden Erkrankung, insbesondere bei behinderten Patienten.2 Vielleicht dachten sie, Michaels MS sei in ihrem finalen Stadium. Vielleicht eine Bauchumfangsvermehrung durch extreme, MS‑assoziierte Obstipation. Rollstuhl-Nutzer haben oft Beinödeme und Atembeschwerden können im Spätstadium von MS ebenfalls auftreten. Sie erkannten weder seinen Krebs, noch die Thrombosen, was dem Patienten den Tod hätte bringen können.
Die Autorin schließt: Palliation bedeutet nicht den Verzicht auf Behandlung, insbesondere therapiebarer Erkrankungen. Laut WHO beinhaltet palliative Versorgung "die frühe Erkennung, korrekte Feststellung und Therapie von Schmerzen und anderen Problemen".
Behinderte Patienten erleben Disparitäten in der Gesundheitsversorgung3, bspw. verspätete Diagnosen, wie Michael. Studien deuten darauf hin, dass dies oft aus Fehlannahmen der Gesundheitsdienstleister über Leben und Wert behinderter Menschen entspringt.4 Michael war glücklich, dass sein Leben vor 4 Jahren gerettet worden ist und liebt das Leben, trotz seiner Behinderung. Ein Jahr nach seiner Krebsdiagnose, an seinem 62. Geburtstag, rollten er und Dr. Iezzoni über die George Washington Brücke in Manhattan und durch den wunderschönen Fort Tryon Park und die Kreuzgänge über dem Fluss Hudson.
Ein Leser schreibt: "Wir müssen sicherstellen, dass benachteiligte Patienten nicht von einer guten und angemessenen Versorgung ausgeklammert werden – das betrifft nicht nur Behinderte, sondern auch Menschen mit desolatem Erscheinungsbild, Substanzabhängige, Menschen anderer Ethnizität, Sprache usw."
Referenzen:
1. Iezzoni, L. I. Dangers of Diagnostic Overshadowing. New England Journal of Medicine 380, 2092–2093 (2019).
2. Shefer, G., Henderson, C., Howard, L. M., Murray, J. & Thornicroft, G. Diagnostic Overshadowing and Other Challenges Involved in the Diagnostic Process of Patients with Mental Illness Who Present in Emergency Departments with Physical Symptoms – A Qualitative Study. PLOS ONE 9, e111682 (2014).
3. Krahn, G. L., Walker, D. K. & Correa-De-Araujo, R. Persons with disabilities as an unrecognized health disparity population. Am J Public Health 105 Suppl 2, S198-206 (2015).
4. Healthy People 2010: Understanding and Improving Health. (2000). Available at: http://www.eric.ed.gov/PDFS/ED443794.pdf. (Accessed: 13th June 2019)