Wir freuen uns immer über Kommentare zu unseren Blog-Artikeln. Sie enthalten häufig Anmerkungen, Reflexionen und Impulse aus praktisch-klinischer Sicht, die für uns und die mitlesenden Kolleginnen und Kollegen von Interesse sind. Wir fassen die Reaktionen zu unserem letzten Beitrag (Liegt die hausärztliche Zukunft in der Prävention?) wie folgt zusammen:
Man könnte noch ergänzen: Niemand hat gesagt, dass die Lifestyle-Beratung und erst recht die Umsetzung leicht ist. Medikamente verschreiben geht schneller und einfacher, Medikamente schlucken auch. Ein wichtiger Schritt hin zum Erfolg ist das Aufstellen geeigneter Ziele, die erreichbar sind und dann den Patienten und seinen behandelnden Arzt dazu motivieren, noch mehr zu wollen.
Hier knüpfen wir nochmal kurz an den vorletzten Blog-Beitrag (Ob dick oder schlank: Entscheidend ist der Stoffwechselstatus!) an. In einer aktuellen, in The Lancet Diabetes & Endocrinology publizierten Arbeit machen der Tübinger Diabetes-Forscher Prof. Norbert Stefan und seine Kollegen nämlich genau das: ein Etappenziel formulieren. Sie postulieren, dass die "metabolisch gesunde Adipositas" ein "lohnendes erstes Ziel" in der Behandlung stark übergewichtiger Patienten sein könnte.
Bekanntlich gelingt es diesen auch im Angesicht der drohenden Gesundheitsrisiken häufig nicht, nachhaltig abzunehmen. Zwar schaffen es viele Betroffene, durch eine Lebensstilintervention kurzfristig an Gewicht zu verlieren. Die erzielten Erfolge sind aber meist nicht von langer Dauer. Zudem ist unklar, wie viele Kilos eigentlich abgespeckt werden müssen, um das Risiko für Folgeerkrankungen deutlich zu mindern.
Auf diese Frage liefert die Forschergruppe um Stefan anhand von eigenen Daten aus dem "Tübinger Lebensstil Interventionsprogramm (TULIP)" nun eine mutmachende Antwort: Eine Gewichtsabnahme um die 10% dürfte bei einem mittleren Ausgangs-BMI von 35 vermutlich ausreichen, um das "metabolisch kranke" in ein "metabolisch gesundes" Übergewicht zu wandeln.
Bei einer stoffwechselgesunden Adipositas weist der Patient höchstens einen der metabolischen Risikofaktoren Hypertonie, Insulinresistenz, Dyslipidämie, Bauchfettsucht, Hyperglykämie oder Fettleber auf. In diesem Fall ist sein kardiometabolisches Risiko "nur" um 25% erhöht – im Gegensatz zu einer 150%igen Steigerung bei krankhaft Adipösen mit zwei oder mehr Risikofaktoren. In der gesamten Adipositas-Population machen die Stoffwechselkranken allerdings etwa 70% aus. Hier gilt es anzusetzen.
Eine Beispielrechnung: Ein Patient, der 180 cm groß ist und 120 kg wiegt, hat einen BMI von 37,0 (kg/m2). Schafft er es, 12 kg abzunehmen und damit sein Gewicht um 10% zu reduzieren, liegt sein BMI mit 33,3 zwar immer noch deutlich und tendenziell demotivierend im Adipositas-Bereich. Trotzdem ist er dem Ziel, den drohenden Adipositas-Gefahren wie Diabetes, Herzinfarkt und Schlaganfall zu entgehen, einen wichtigen Schritt näher gekommen. Und eine 10%ige Gewichtsreduktion ist auch in der Praxis kein einfaches, aber realistisches Ziel. Erst recht, wenn der Patient genau weiß, welchen Nutzen er sich davon versprechen kann.
Bei TULIP-Patienten mit einem BMI von 33 wurden nach einer Gewichtsabnahme um 9% im Durchschnitt folgende Erfolge gemessen:
Es ist, wie gesagt, nur ein Etappenziel – bis zum Normalgewicht ohne erhöhtes kardiometabolisches Risiko sind es nochmal 20% Gewichtsreduktion. Aber um überhaupt auf die Erfolgsspur zu kommen und motiviert darauf zu bleiben, bedarf es häufig der kleinen Schritte. "Sehen Sie diesen Schutz als eine 'niedrig hängende Frucht' an. Sie ist zwar nicht leicht zu ernten, aber einfacher zu erreichen, als sich von Anfang an auf die obersten Früchte zu konzentrieren", so Stefan, der die Bedeutung der Kommunikation zwischen Arzt und Patient als "wichtige Stütze" betont.
Einen BMI über 35, also eine Adipositas Grad II oder III, schleppen laut Schätzungen etwa 2 Millionen Menschen in Deutschland mit sich herum. Bei einer solch ausgeprägten Adipositas ist auch die bariatrische Chirurgie in Erwägung zu ziehen, die mit gewachsener Evidenz aufwarten kann. Damit ist eine Reduktion des exzessiven Übergewichts um bis zu 70-80% möglich. Aber auch in diesem Fall reicht das Skalpell alleine nicht aus, um einen dauerhaften Erfolg zu sichern.
Die Arzt-Patienten-Kommunikation ist und bleibt der wichtigste Treibstoff, den der Patient auf seiner "Tour de Santé" beim Boxenstopp in der ärztlichen Praxis erhalten kann.
Aktuelle Expertenbeiträge zu diesem Thema lesen Sie jede Woche neu im esanum Diabetes Blog.
Referenz:
Stefan N et al. Metabolically healthy obesity: the low-hanging fruit in obesity treatment? Lancet Diabetes Endocrinol 2017. doi: 10.1016/S2213-8587(17)30292-9.