Geschlechtsspezifische Unterschiede beim Diabetes werden immer öfter thematisiert. Sind sie dennoch vielen Ärzten und Diabetesberaterinnen "wenig intensiv bekannt"?
Im vorletzten Beitrag ging es um die neuen Cluster, Subphänoytpen oder Gruppen des Diabetes, die beim diesjährigen Diabetes Kongress einen der Themenschwerpunkte bildeten. Die Botschaft: (auch Typ-2-) Diabetes ist nicht gleich Diabetes. Und das gilt auch mit dem Blick auf die Geschlechter – "Gender und Diabetes" war ein weiteres der fünf gesetzten Top-Themen im Kongressprogramm.
So richtig neu ist das Thema eigentlich nicht mehr, mancher reagiert mittlerweile schon auf das Wort "Gender" allergisch. Das mag aber vor allem an bestimmten politischen Diskursen und den ein oder anderen gefühlten Übertreibungen liegen. In der Medizin verlangt schon das ärztliche Ethos, sich intensiv mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Diagnostik und Therapie vertraut zu machen, sofern sie bekannt sind (siehe auch unseren Beitrag "Diabetes und Herz-Kreislauf-Risiko bei Frauen: die unterschätzte Gefahr" aus den Anfängen dieses Blogs).
Da ist ja die Tür u. a. von den Kardiologen (generisches Maskulinum!) aufgestoßen worden, "indem sie herausgearbeitet haben, dass koronare Herzerkrankungen und Myokardinfarkte bei Männern und Frauen etwas anderes sind". Darauf wies der in Offenbach am Main niedergelassene Diabetologe Dr. Christian Klepzig schon vor ein paar Jahren im Ärzteblatt-Interview zum Thema Gender und Diabetes hin. Ihm ist u. a. aufgefallen, dass vor allem weibliche Patienten mit Typ-2-Diabetes oft Schuldgefühle wegen ihrer Erkrankung hegen. Ein mangelnder Erfolg beim Abnehmen oder bei der Einstellung guter Blutzuckerwerte verstärkt dann häufig das Schuld- und Versagensempfinden. Dass es neben dem Gewicht noch andere Gründe für schlechte Blutzuckerwerte geben könnte, wird häufig gar nicht hinterfragt. Daran sollte man als Arzt in der Patientinnenbetreuung denken, und auch an die Gefahr, dass Diabetikerinnen häufiger eine Depression entwickeln.
Durch die Pressearbeit der DDG im Vorfeld der Jahrestagung ist das diabetologische Gender-Thema in den Fach- und Publikumsmedien aufgepoppt. Bei einer Pressekonferenz erklärte PD Dr. Julia Szendrödi laut aerzteblatt.de, dass die Diabetes-Konsequenzen bei Frauen schwerwiegender als bei Männern sind. Szendrödi ist Leiterin des Klinischen Studienzentrums des Deutschen Diabetes-Zentrums an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Hormonelle Unterschiede zwischen Mann und Frau dürften zu den geschlechtsspezifischen Differenzen bei der Blutzuckerkrankheit beitragen. Während etwa die Inzidenz bei Frauen im jüngeren Alter etwas niedriger liegt als bei Männern, steigt sie vor allem nach der Menopause deutlich an. Bei Diabetikerinnen sind im Gefolge der Insulinresistenz ein stärkerer prothrombotischer Effekt und eine vermehrte vaskuläre Inflammation als bei Männern zu beobachten. Außerdem, so die Diabetes-Expertin, gibt es auch Unterschiede beim Verhalten: "Bei Frauen ist die Selbstfürsorge oft weniger stark ausgeprägt als die Fürsorge für die Familie", so Szendrödi. Mann und Kinder werden umsorgt und zum Arzt geschickt, der eigene gesunde Lebensstil dagegen vernachlässigt.
Schließlich gibt es laut Szendrödi auch ärztliche Defizite: Kardiovaskuläre Risikofaktoren würden bei Frauen weniger gut kontrolliert und eingestellt, auch werde bei ihnen nicht rechtzeitig an Herzerkrankungen gedacht. Behandelnde Ärzte sollten bei übergewichtigen Frauen mit familiärem Diabetes, Gestationsdiabetes oder anderen kardiovaskulären Risikofaktoren also "nicht warten, bis Symptome auftreten".
Und noch ein Hinweis der Düsseldorfer Expertin: Bevor sich die Diabetes-Erkrankung manifestiert, kann der Glukosestoffwechsel schon bis zu zehn Jahre gestört sein. Wie lässt sich eine solche Stoffwechselstörung ausschließen? Natürlich über den oralen Glukosetoleranztest. Eine Messung des Nüchternblutzuckers oder auch des HbA1c-Werts reicht nicht aus.
Aus dem Wissen um die geschlechtsspezifischen Unterschiede, Risikofaktoren und Komplikationen bei Diabetes-Patienten/Patientinnen resultieren andere Beratungs-, Präventions- und Therapiestrategien. Das ist ein wichtiger Fortschritt in Richtung – Achtung: weiteres Schlagwort – personalisierte Medizin.
Ist das Gender-Thema in der Praxis bisher noch kaum angekommen? Wir sind bei der Recherche auf den Beitrag "Diabetes Typ 2: Frau und Mann sind nicht gleich" auf deutschlandfunk.de gestoßen, dem offenbar auch die DDG-Pressekonferenz zugrunde liegt. Dort wird Kongresspräsident Prof. Michael Roden (Düsseldorf) folgendermaßen zitiert: "Es ist sowohl in der Bevölkerung als auch bei der großen Zahl der Ärzte und Diabetesberaterinnen, ich glaube, wenig intensiv bekannt. Insbesondere dass man auf unterschiedliche Symptome achten muss und noch ein Punkt: der Umgang mit der Erkrankung."
Sollte dem so sein, besteht dringender Nachholbedarf. Eine kürzlich publizierte Übersichtsarbeit zur aktuellen Studienlage bezüglich der Mortalität bei Typ-2-Diabetes in Deutschland hat Folgendes ergeben: Die Mortalitätsrate von Menschen mit Typ-2-Diabetes gegenüber Nicht-Diabetikern ist um das 2‑ bis 3‑Fache erhöht. Frauen weisen im Vergleich zu Männern eine höhere Übersterblichkeit auf, die mit zunehmenden Alter sinkt.
Referenzen:
1. Tönnies T et al. Mortalität bei Typ-2-Diabetes in Deutschland. Diabetologe 2019. https://doi.org/10.1007/s11428-018-0436-6