Wissenschaft, Politik und Populismus: Spielen fehlerhafte Berechnungen und Annahmen von Grenzwert-Kritiker Köhler eine Rolle?
Wir schieben zum letzten Beitrag über die Lungenärzte-Grenzwert-Diskussion noch eine Schlagzeile nach: "Lungenarzt mit Rechenschwäche" (taz.de). Fehlerhaft waren offenbar Umrechnungen und angenommene Ausgangswerte. Fehler sind menschlich, in Politik und leider auch Wissenschaft weit verbreitet und manchmal von großer Tragweite. In diesem Fall sind die Fehler eher unschädlich, wegen der Brisanz der Diskussion aber schon pikant.
Zumal Prof. Köhler neben mehreren Rechenfehlern einräumen musste, eine seit 2004 existierende Vorgabe der EU nicht gekannt zu haben: Dieser zufolge liegt der erlaubte Kondensat-Wert pro Zigarette bei maximal 10 mg und der durchschnittliche Gehalt darunter. Der inzwischen auch der breiten Öffentlichkeit bekannte Lungenarzt war bei seiner Berechnung des Feinstaub-Gehalts von 10–25 mg pro Glimmstängel ausgegangen. Ein gefundenes Fressen für die taz und die nachziehenden Medien.
Wie es in Bezug auf nachhaltigere Verkehrskonzepte gehen kann, macht gerade die Stadt Wiesbaden vor. Jedenfalls in den Augen der Deutschen Umwelthilfe (DUH), deren Klagen zu den Dieselfahrverboten geführt haben. Der Wiesbadener Luftreinhalteplan "sei so gut wie bundesweit keiner bisher", wird der DUH-Geschäftsführer bei Ärzte Zeitung online zitiert. Konsequenz: gerichtlicher Streit beigelegt, kein Fahrverbot in Wiesbaden.
Jetzt hat sich auch noch das Deutsche Zentrum für Lungenforschung (DZL) zu Wort gemeldet. Das Konsortium aus 29 führenden universitären und außeruniversitären Forschungsinstitutionen verfolgt die aktuelle Diskussion "mit großer Besorgnis" und sieht sich zur Positionierung mittels 8 Fakten zu Luftschadstoffen genötigt. Nichts Neues oder Unerwartetes: Der WHO-konforme Grenzwert hat seine Berechtigung und ist politischer Natur, die technische Realisierbarkeit muss berücksichtigt, die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben, etc. etc. ...
In "Fakt" 8 wird beklagt, dass im aktuellen Stickoxid-Diskurs "wissenschaftspopulistische Aussagen eine rasante mediale Aufwertung" erfuhren. "Das 'klassische' Reaktionsmuster der Wissenschaft, Bevölkerung und Entscheidungsträgern wohlüberlegte und ausgewogene Stellungnahmen in ausgesuchten Publikationsorganen anzubieten, geriet demgegenüber vollkommen ins Hintertreffen", so der DLZ-Vorstand.
Es sind schon interessante Zeiten gerade zu erleben, angereichert mit Fact News und Fake News, politischem und wissenschaftlichem Populismus … Ob das allerdings jemals wirklich anders war? Schließlich geht es in den großen öffentlich-politischen Diskussionen sehr häufig – mindestens im Hintergrund – um starke Interessen und viel Geld, beim Thema Auto in Deutschland ganz besonders.
Die klagefreudige Umwelthilfe mag zwar manchen Mitbürgern die Zornesröte ins Gesicht treiben. Sie hat es aber immerhin geschafft, dass über die seit 2010 geltenden Grenzwerte geredet und die vielerorts behäbige kommunale Administration zum Nachdenken und Handeln stimuliert wird. Möge es der Luft und den Menschen in diesem Land gut tun …
Die vom Umweltbundesamt ermittelten Emissionswerte (Excel-Link) weisen hierzulande zwar einen langjährigen Besserungstrend auf. Abhaken sollten wird das Thema deshalb aber nicht. Es sei nochmal an den enormen Anstieg der Asthma-Prävalenz unter Erwachsenen in Deutschland erinnert, der kürzlich in einer ZI-Studie anhand von vertragsärztlichen Abrechnungsdaten ermittelt worden ist: um 35% innerhalb von sieben Jahren (2009–2016)!
Schlechtere Lungengesundheit trotz besserer Luft? Laut Versorgungsatlas-Auswertung hat sich die Asthma-Prävalenz nur bei den Erwachsenen so deutlich erhöht (vorrangig in nicht-allergischer Ausprägung), bei Kindern und Jugendlichen ist sie dagegen nahezu konstant geblieben. Ob sich da eventuell die höhere Schadstoffbelastung in früheren Jahrzehnten ausgewirkt und das Auftreten der Asthma-Entstehung im Erwachsenenalter begünstigt hat? Oder ob eben doch individuelle Faktoren und Verhaltensweisen relevanter sind als die allgegenwärtige Luftverschmutzung?
Wissen wir nicht und werden wir so schnell nicht wissen. Die erwähnte DZL-Stellungnahme weist in Punkt 4 darauf hin, dass es „keine Methode“ gibt, „die es einem Arzt ermöglichen würde, an einem lungenerkrankten Patienten festzustellen, inwieweit Komponenten der Luftverschmutzung zu der Erkrankung beigetragen haben“. Wir können aber davon ausgehen, dass die Kombination ungünstiger Faktoren in der Summe das Morbiditätsrisiko erhöht.
Wir sollten unsere Patienten und die, die es nicht werden wollen, weiterhin und immer wieder darüber aufklären, dass die Lunge nicht nur unser Atmungs-, sondern auch ein relevantes Entgiftungsorgan ist. Kollege "arztAP" hat in seinem Leserkommentar mit Blick auf die von der Lebensstil-abhängigen Dreckakkumulation belastete Lunge eine empathische Empfehlung (wenn auch auf Englisch) parat: "Give it a break!"
Abkürzungen:
ZI = Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung