Asthma, Wahrheit und Lüge – was einem beim Surfen im Netz so alles ins Netz geht …
Heute mal ein etwas anderer Beitrag: Wir nehmen Sie mit auf eine kleine Recherche-Tour.
Wir stolpern irgendwo über die Aufforderung "Erfahre die Wahrheit über Asthma". Die kennen wir doch eigentlich, oder? Andererseits: Kennen wir sie wirklich? Gibt es sie überhaupt? "Was ist Wahrheit?" (Stichwort für Nichteingeweihte: Pontius Pilatus; erstmal steht aber Weihnachten vor der Tür …)
Also angeklickt. Bevor wir erfassen können, worum es geht, baut sich das auf:
Ja, sind wir. Beim Aufruf der Website können wir unter dem "Erfahre die Wahrheit über Asthma" gerade noch "mithilfe allergenspezifischer IgE-Bluttests" lesen, bevor das hier aufpoppt:
Wieso "werden"? Wer will das wissen und warum? Okay, es handelt sich offenbar um Werbung für Allergiediagnostik. Ein paar Fakten sind auch dabei:
Den Fakten und den angegebenen Referenzen mangelt es ein wenig an Aktualität. Sollte sich dennoch für irgendjemand ein informationeller Mehrwert oder Impuls ergeben, freuen wir uns.
Spaßeshalber (oder, um genauer und ehrlich zu sein: im intrinsisch motivierten Auftrag des Blogs) geben wir den Slogan mit der Asthma-Wahrheit in Google ein. Auf der SERP (Search Engine Result Page = Suchergebnisseite) stechen uns die Snippets (Schnipsel bzw. Vorschau des Inhalts einer Webseite in den Suchergebnissen) mit folgenden Titeln ins Auge:
Wir schauen uns den PDF-Link an und lesen: Umfrage "Die Wahrheit über Asthma"–Nationale Ergebnisse. / 157 Patienten nahmen in Deutschland an der Befragung "Die Wahrheit über Asthma" teil. / Auswirkungen auf die Patienten: Schweres Asthma beeinträchtigt drei Viertel (75%) der Deutschen mit Asthma wöchentlich, in einigen Fällen sogar noch häufiger.
Wir überspringen ein paar Zeilen und lesen weiter: Aufgrund schweren Asthmas wurde die Hälfte der Befragten zweimal innerhalb eines Jahres ins Krankenhaus eingewiesen.1 / Jeder Krankenhausaufenthalt der befragten Deutschen mit schwerem Asthma dauerte im Durchschnitt 4,2 Tage.2 / Im Durchschnitt wurden die deutschen Asthma-Patienten 8,8 Tage pro Jahr im Krankenhaus behandelt.3
Die drei Fußnoten haben jeweils den gleichen Text: "Geringe Anzahl der Befragten". Zumindest diese Aussage könnte was mit der Wahrheit zu tun haben … Link, PDF und vermutlich Umfrage stammen übrigens von einem großen amerikanischen Medizintechnik-Unternehmen mit deutscher Dependance in Ratingen.
Wie hoch ist die durchschnittliche Verweildauer von Asthma-Patienten in Deutschland? Wir googeln uns zur Website der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (gbe-bund.de) und lesen dort bei ausgewählten Diagnosen unter "J45-J46 Asthma": 8,2 Tage (im Jahr 2000) bzw. 15,2 Tage (2010) bzw. 13,7 Tage (2017).
Wir forschen nicht weiter nach, sondern wenden uns der Asthma-Lüge zu.
Dabei handelt es sich um einen Wirtschaftskrimi, der im Asthma-Milieu spielt. Scherz beiseite, der wahre Fall hat es in sich: Christoph Klein, 1966 in Troisdorf (Rheinland) geboren und seit seiner Kindheit an Asthma leidend, bringt Ende 1995 eine neuartige Inhalierhilfe auf den Markt. Motivation ist der (Eigen-)Bedarf an einem Asthma-Spray, das auch im Liegen funktioniert. Das gerade statt L-förmige Mundrohr hat, so ist zu lesen, noch andere Vorteile: höhere Effektivität (mit geringer Anzahl von Sprühstößen deutlich mehr Wirkstoff in die Bronchien), weniger Nebenwirkungen (weniger Wirkstoff-Rückstände an den Schleimhäuten; dabei deutlich geringeres Volumen als Spacer), weniger Plastikmüll (Wiederverwendbarkeit, Dosieraerosole mit allen kurzwirksamen Beta-2-Sympathomimetika herkömmlicher Inhalatoren können eingesetzt werden).
Klein lässt das Medizinprodukt „Broncho-Air“ in Sachsen-Anhalt für den gesamten europäischen Wirtschaftsraum CE-zertifizieren und produzieren, der Vertrieb sitzt in Bayern. Dort regt sich auf Drängen der Regierung von Oberbayern (bzw. der Pharmaindustrie, wie Klein vermutet?) Widerstand in Form eines Vertriebsverbots. Begründung: gesundheitliche Bedenken. Trotz erfolgreicher Startphase muss der Unternehmer sein Produkt wieder vom Markt nehmen, ebenso wie später den Nachfolger "Effecto".
Seit über zwei Jahrzehnten läuft nun ein Rechtsstreit. Der Fall schaffte es (von uns seinerzeit unbemerkt) in diverse Publikums- und Fachmedien inklusive ÄrzteZeitung und Deutschem Ärzteblatt (beide Beiträge von derselben Autorin) im Jahr 2009. Klein betreibt u. a. einen Facebook-Kanal und eine eigene Website über "25 Jahre Behördenkampf". Dort findet sich auch eine "kleine Auswahl von Presse-, Medien- und TV-Berichten", u. a. ein Beitrag in der ARD-Sendung Report München vom 21.08.2018 ("Arzneimittel für Asthmatiker: Der verzweifelte Kampf eines Erfinders").
Darin wird berichtet, das Klein mächtige Institutionen als Gegner hat: das bayerische Gesundheitsministerium, die Regierung von Oberbayern, das Bundesministerium für Gesundheit, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und die EU-Kommission. "Gemeinsam haben sie dafür gesorgt, dass seine Inhalierhilfe dauerhaft vom Markt verschwindet", heißt es. Obwohl in der Zeit bis zum Vertriebsverbot bei den Versicherten der Energie-Betriebskrankenkasse mit "gut 300 Asthma-Patienten" die Ausgaben um 41% und die Medikamentenverordnungen um 37% gesunken sein sollen. (Hohe Wellen hat der Report-Beitrag auf YouTube nicht geschlagen: nur 33 Aufrufe, inklusive dem unsrigen … Vielleicht hätten wir uns lieber den BR-Fernsehbeitrag anschauen sollen. Der hat fast 42.000 Aufrufe, dauert aber deutlich länger.)
Zuletzt gab es ein abschlägiges Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), das für den Kämpfer Klein aber noch nicht das Ende bedeutet: "Dieses Urteil ist nach Analyse von mehreren Anwälten bizarr, vielmehr absurd und entspricht nicht der Wahrheit (…). Das Ganze wird also noch ein gewaltiges Nachspiel haben." (Fundstelle bei wallstreet-online.de)
Über sein Ringen mit den Behörden hat Klein übrigens ein Buch geschrieben (Independently published): "Die Asthma-Lüge: Wie Lobbyismus und Politik eine geniale Produktidee zerstören – eine wahre Geschichte".